: Pissen, Puschern, Schwanzwaschen
■ Nur „Bravo“ ist spannender: Ex-Literatur-Nymphchen und Neu-Mutter Alexa Hennig von Lange liest heute aus ihrem nicht mehr ganz so neuen Roman „Ich bin's“
Anfang 1998 begab sich ein älterer Herr, nennen wir ihn einfach Joachim Lottmann, in das Haus einer jungen Dame, damals 24 Jahre jung, aussehend wie 19 und den belesenen Schöngeist immer wieder an Lolita erinnernd, das berühmteste Nymphchen der Welt. Ausgestattet mit einem unbestechlichen literarischen Geschmack und der Prämisse, dass „junge Menschen ein Recht auf das Hinhören der Älteren“ haben, war Lottmann angetreten, den Obsessionen der nachfolgenden Generation auf den Zahn zu fühlen: „Pinkeln, Pissen, Puschern, Schwanzwaschen, Rattern, Fusseln“.
Diese „authentischen Vokabeln“ hatte er in einem Debütroman entdeckt, den er vergleichbar fand mit Salingers Fänger im Roggen, sogar Hemingway kam ihm in den Sinn, wenn er den Blick einmal von „diesen Locken“ und „den leichten Babyspeck rund um ihren schönen Bauchnabel“ wenden konnte. Wie das mit beredten älteren Herren nun mal so ist, folgten auf die „langen Fragen kurze Antworten“, und wie ihre berühmte Vorgängerin in Vladimir Nabokovs Roman musste das freche Ding kaum sein Mündchen öffnen, wurde ihm doch jeder Wunsch, jeder Gedanke gleich von den hinreißenden Lippen abgelesen.
Kleine Perlen wie „Da ist die Natur da, die bestimmt hat, dass die Frau Kinder kriegt und ein Nest baut“ und „Nietzsche war ein Rockstar“ will uns der vernarrte Literaturkritiker aber doch nicht vorenthalten, schließlich soll die Welt seine Begeisterung teilen können, und die Kleine ist eben nicht nur schön, sondern auch klug. Erstaunlicher als die Eloquenz und Breite, mit der Joachim Lottmann in der Zeit vom 5.2.1998 seinen Humbert-Komplex ausleben durfte, ist der Nachhall, den die Lobpreisung gefunden hat. Dass Lottmanns verliebte Wendungen („Diese Locken“, „Spice Girl der Literatur“) sich in fast allen Besprechungen des Debütromans Relax und seines Nachfolgers Ich bin's finden, kündet nicht nur von einem nicht nachlassenden Kult um die Jugend, sondern macht auch deutlich, wie selbstbezüglich Medien weitgehend arbeiten.
Der neue Roman ist angeblich nicht so gut wie der alte, und Alexa ist zwei Jahre älter geworden. Wie ihre literarische Vorgängerin hat sie mittlerweile ein Kind bekommen und dürfte damit dem Zwischenreich entwachsen sein, in dem die wahren Nymphchen hausen. Hr. Lottmann wird sich wieder auf die Suche machen müssen. Volker Hummel
Lesung: heute, 20 Uhr, Schauspielhaus;
Alexa Hennig von Lange, Ich bin's, Rogner & Bernhard, Hamburg 2000, 210 Seiten, 25 Mark
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen