Analyse: Pinochet zu uns?
■ Auch Deutschland könnte die Auslieferung des Diktators fordern
England will anscheinend seinen derzeit prominentesten U-Häftling weder an Spanien noch an sonst irgendein Land ausliefern. Doch auch Deutschland hätte Grund, den chilenischen Ex-Diktator Augusto Pinochet vor Gericht zu stellen. Das sogenannte „Weltrechtsprinzip“ gebietet, eine Strafverfolgung gegen Folterer und Völkermörder auch dann aufzunehmen, wenn keine deutschen Staatsangehörigen betroffen sind. Im Fall Pinochet scheint das so zu sein. Deutsche sind während des Pinochet-Militärregimes nicht nachweislich verschwunden oder ermordet worden. Bisher aber hat die deutsche Gerichtsbarkeit nur in solchen Fällen Auslieferungen beantragt, wenn hierzulande ein entsprechendes Verfahren anhängig war.
Der Freiburger Strafrechtler Kai Ambos vom Max-Planck- Institut für ausländisches und internationales Strafrecht sieht im Strafgesetzbuch einen Weg, nicht nur an Pinochet, sondern auch an andere ehemalige Machthaber, die gegen Völkerrecht verstoßen haben, heranzukommen. Nach Paragraph sechs muß Deutschland sogar aktiv werden, weil es zur Strafverfolgung verpflichtet ist. Wird ein Tyrann festgenommen, „kann Deutschland nichts daran hindern, einen Auslieferungsantrag zu stellen“, meint Ambos. Den rechtlichen Rahmen dafür geben internationale Verträge und Abkommen vor, wie etwa die UN-Folterkonvention von 1984.
Der Bundesgerichtshof teilt diese Auffassung nicht. In verschiedenen Urteilen hat es einen zwingenden „Innenbezug“ als Voraussetzung für eine Anklage gefordert. Das heißt: Täter oder Opfer müssen in Deutschland zumindest gelebt haben oder noch leben. So war es etwa im Fall des Serben Nikola Jorgic. Die Bundesanwaltschaft klagte ihn im März 1997 vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf wegen Völkermordes in 14 Fällen an. Das OLG nahm die Klage letztlich nur an, weil Jorgic seit 1969 fast durchgängig in Deutschland lebte.
Der Direktor des Heidelberger Max-Planck-Institutes für Völkerrecht, Rüdiger Wolfrum, hält diese Auslegung für falsch. Der Oberste Gerichtshof habe „das System nicht verstanden“. Weil der Staatengemeinschaft außer dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag und dem UN-Sicherheitsrat keine weiteren Instrumente zu Verfügung stehen, völkerrechtliche Vereinbarungen durchzusetzen, ist sie auf die Justiz der Unterzeichnerstaaten angewiesen. Die wiederum ist angehalten, auch im Namen der Staatengemeinschaft Unrecht zu verfolgen. Dies gilt im übrigen nicht nur für Folter und Völkermord, sondern auch für Menschenhandel oder internationalen Terrorismus. Wolfrum kritisiert: „Die deutschen Gerichte sind noch zu sehr dem nationalstaatlich orientierten Denken verhaftet.“ Thorsten Denkler
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