Pilotprojekt gegen Hass im Netz: „Digitale Bürgerkultur“ in Sachsen
Ein Pilotprojekt bietet Mitarbeiter:innen aus der Privatwirtschaft Schulungen gegen Hate Speech und Fake News an. Was steckt dahinter?
Die Älteren unter ihnen, die die volkseigenen Betriebe der DDR noch von innen kennen, werden sich hierbei vielleicht an die obligatorischen Verkehrsteilnehmer- und Gesundheitsschulungen von damals erinnert fühlen.
Was aber veranlasst die der Effizienz verpflichteten Privatunternehmen, sich während der Arbeitszeit einem gesellschaftlich brisanten Thema zu widmen? Und warum überlassen sie diese Aufgabe nicht den Bildungsverantwortlichen, insbesondere den Institutionen der politischen Bildung?
„Demokratie-Initiative der Wirtschaft“ nennt sich das seit Anfang März laufende Pilotprojekt inklusive Workshops in Musterbetrieben. Es geht um nicht weniger als den richtigen Umgang mit Fake News, Verschwörungstheorien sowie Hass im Internet und den sozialen Medien. Und damit um die bessere Handhabung eines mit der Digitalisierung und Vernetzung lawinenartig angewachsenen Problems, dem mit Gesetzen, wie dem gegen Hasskriminalität im Netz, kaum beizukommen ist. Von daher setzt die Wirtschaftsinitiative auch direkt bei den durch sie erreichbaren Unternehmensmitarbeiter:innen an, die ja beides sein können: User:innen und machmal auch Opfer von Online-Attacken.
Angst als Motor der Online-Debatten
Die Beweggründe der Initiative klingen zunächst uneigennützig und verantwortungsbewusst: „Wir sind überzeugt, dass die Debattenkultur im Netz entscheidend für die Stärke der Demokratie ist“, sagt Elisabeth Niejahr, Geschäftsführerin der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Man wolle den Exzessen nicht tatenlos zusehen.
Die wirtschaftsnahen Hertie- und Robert-Bosch-Stiftungen haben sich mit dem deutschen Ableger des Londoner Institute for Strategic Dialogue (ISD) zusammengetan. Dort liegt auch die Regie für das zunächst auf zwei Monate anvisierte Pilotprojekt. Geschäftsführerin Huberta von Voss hat gemeinsam mit überwiegend weiblichen Expertinnen und Trainerinnen das Konzept entworfen. Sein Untertitel lautet: „Innovative Konzepte gegen Extremismus und Polarisierung“.
„Polarisierende und auch irreführende Nachrichten sind Teil eines Geschäftsmodells der sozialen Medien, das Geld mit unserer Aufmerksamkeit verdient“, sagt Huberta von Voss und übt damit harsche Kritik an den Medien, die auf die Faszination von extremen Inhalten setzen. Angst werde so schnell zum Motor von Debatten. „Wir wollen den Teilnehmern die Kenntnisse und Kompetenzen geben, die sie für den digitalen Durchblick brauchen. Auch, um zu verstehen, wo unsere Verantwortung liegt im Sinne einer digitalen Bürgerkultur“, so die Geschäftsführerin weiter.
„Es ist wichtig, dass man nicht ruhig bleibt, sondern digitale Zivilcourage zeigt“, sagt auch Susanne Kloss von Nomos Glashütte. Im osterzgebirgischen Werk trifft das Schulungsangebot offenbar auf ein entsprechendes Orientierungsbedürfnis. Anders als einst im Sozialismus haben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer freiwillig angemeldet.
Humanistischen Idealen verpflichtet
Sechs Pilotunternehmen hat die Hertie-Stiftung für den zweimonatigen Probelauf gewinnen können. Neben Nomos sind Evonik, die Kion und die Alba Group, die Ufa GmbH und Volkswagen dabei. Die Workshops sind offen für alle Mitarbeiter:innen, nicht nur für das Leitungspersonal. Für Berichterstatter:innen sind sie allerdings nicht zugänglich, die Debatten finden in einem virtuellen Schutzraum statt.
Geleitet werden die Kurse von einer auf neue Medien spezialisierten Journalistin und einem Techniker, der auch den Chat betreut. Beide konfrontieren die Teilnehmer:innen zunächst mit Beispielen aus der Welt der üblen Onlinenachrichten. Hassausbrüche spielen dort ebenso eine Rolle wie Fake News, die als solche erst einmal erkannt werden müssen. Dann wird diskutiert und gefragt, ob und wie man reagieren und sich einmischen sollte. Für die angemessene Formulierung eines solchen Kontras – auch für den Fall von eigener Betroffenheit – gibt es schlussendlich Empfehlungen.
Die Serviceleiterin von Nomos Glashütte, Susanne Kloss, schildert, wie nahe vielen die Hassbotschaften im Netz gehen. Trotz ihres Alters und ihrer Erfahrungen fühlten sich manche Mitarbeiter:innen ratlos, ja sogar hilflos, selbst wenn sie noch nicht persönlich attackiert worden sind.
„Man darf nicht so abgebrüht sein, man kann einiges einfach nicht unkommentiert lassen“, sagt Schulungsteilnehmerin Alexa Montag, die für das sächsische Unternehmen in der Öffentlichkeitsarbeit tätig ist. Die Inhalte der ersten drei Schulungen haben sogar sie als häufige Mediennutzerin nicht kalt gelassen, etwa als sie mit rechtsradikalen oder antisemitischen Kommentaren konfrontiert wurde.
Was man böswillig als volkspädagogisches Feigenblatt der Wirtschaft denunzieren könnte, stößt also auf einen wirklichen Bedarf. Und der sei während der Coronakrise noch einmal gewachsen, stellt Nomos-Geschäftsführerin Judith Borowski fest. „Viele fühlen sich vereinzelt und stärker auf sich selbst zurückgeworfen. In dieser Verunsicherung werden sie anfälliger für Verführer im Netz.“ Diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wolle man den Rücken stärken. Natürlich nicht ganz uneigennützig, denn auch das Unternehmen selbst profitiere von Personal, „das selbstbewusst im Betriebsalltag mit Konflikten umgeht“. Zudem helfe Medienkompetenz auch im ganz normalen Arbeitsalltag.
Aber: „Niemand wird belehrt und selbstverständlich geben wir auch keine Wahlempfehlung“, betont Huberta von Voss vom ISD-Institut den allein humanistischen Idealen verpflichteten Charakter des Weiterbildungsangebots. Nach der Pilotphase soll das Projekt ab Mai evaluiert und auf eine Erweiterung geprüft werden. Eine solche Debatte sei nötig, „damit das Internet für die Demokratie arbeitet und nicht gegen sie“.
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