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Pflegewissenschaftler über Ausbeutung„Die Rückkehr der Dienstmagd“

Die meisten osteuropäischen Kräfte, die alte Menschen zu Hause betreuen, arbeiten illegal. Bislang interessiert sich die Politik kaum dafür.

Die Pflege zu Hause muss man sich leisten können: eine alte Dame und ihre polnische Betreuerin Foto: Ulrich Perrey/dpa
Friederike Gräff
Interview von Friederike Gräff

taz: Herr Isfort, haben Sie sich gefreut über das Urteil des Bundesarbeitsgerichts, dass Bereitschaftszeiten in der 24-Stunden-Pflege bezahlt werden müssen?

Michael Isfort: Freude ist vielleicht ein großes Wort. Natürlich habe ich damit gerechnet, weil es nur eine Frage der Zeit war, bis man sich dieser Fragestellung angenommen hat, um zu schauen: Was sind das eigentlich für Arbeitsbedingungen und wie steht es um die Angleichung der Arbeitsrechte für Betreuungskräfte, die von Firmen im Ausland entsendet werden?

Wird das Urteil das Arbeitsfeld der häuslichen Pflege, in dem vieles im Graubereich liegt, verändern?

Man muss verstehen, dass dieses Urteil ein Urteil über ein Modell ist, das in dieser Form rückläufig ist. Denn die Entsendung einer Angestellten ist nicht mehr das vorherrschende Modell. Rechtlich ist dies aufwendig, da Bescheinigungen vorliegen müssen, die eine Sozialversicherungspflicht im Herkunftsland nachweisen. Die entsendende Firma muss nachweislich eigene und ähnliche Dienstleistungen im Herkunftsland anbieten. Was ich beobachte ist, dass man zunehmend über das Selbstständigen-Modell geht. Da treten vermeintlich Selbstständige an und verhandeln über ihre Arbeitsleistungen und auch ihre Arbeitszeiten – und darauf bezieht sich das Urteil nicht. Die Agenturen vermitteln für Selbstständige dann lediglich die Kontakte. Bei dem Modell der Selbstständigen gibt es aber die große Problematik der Scheinselbstständigkeit: Weil jemand, der über längere Zeit in einer Familie lebt, natürlich keinen zweiten Arbeitgeber hat.

Wenn es Verhandlungssache ist: Wie gut ist die Position der Betreuungskräfte dabei?

Es ist ein großer Graubereich. Das eine ist, dass die Vermittlungsfirmen einem mittlerweile sagen, dass sich die Position der Mitarbeitenden erheblich verbessert hat. Sie sind vielfach über Foren, Plattformen und Social Media vernetzt und haben längst ihren eigenen Marktwert erkannt, sodass es diese Dumpingpreise von rund 800 Euro, die es vor sieben, acht Jahren noch gab, in diesem Vermittlungsbereich nicht mehr gibt. Aber zunehmend werden auch Frauen aus Drittstaaten angeworben, aus der Ukraine zum Beispiel, um das Lohnniveau niedrig zu halten. Andererseits gibt es die große Frage der Schwarzarbeit, die ohnehin den Löwenanteil ausmachen wird. Da haben Gerichtsurteile keine Auswirkung, das ist nun einmal das Wesen der Schwarzarbeit.

Bild: Privat
Im Interview: Michael Isfort

51, ist Professor für Pflegewissenschaft und Versorgungsforschung an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und hat zur Situation ausländischer Betreuungskräfte in Familien mit Pflegebedarf geforscht.

Wie sehen die Schattierungen dieses Graubereichs der häuslichen Betreuung aus?

In der Literatur wird das oft beschrieben als die Rückkehr der Dienstmagd: eine Beschäftigte, die in einer Dachmansarde wohnt und dem bürgerlichen Mittelstand oder der Oberschicht rund um die Uhr zur Verfügung zu stehen hat. Das ist sicherlich etwas, was auch weiterhin existieren wird. Momentan haben wir auf der einen Seite radikale Ausbeutung und auf der anderen Seite fast familiäre, zusammengewachsene Strukturen, eine „Quasi- Adoption“, wobei auch dies kritisch ist. Das beidseitige Gelingen der Konstellation ist eher zufallsorientiert, und es gibt keine Kontrollfunktion und auch keine Hilfestellung, wenn eine Haushaltshilfe sagt: Ich bin hier fachlich oder emotional überfordert. Dienstleitungsverträge für Frauen sind bei den schwarzen Schafen der Agenturen in diesem Markt weiterhin Knebelverträge mit Strafzahlungsklauseln. Genauso gibt es aber mittlerweile Berichte, wo Familien sagen: Wir sind hier Opfer geworden, weil es ein Bereich ist, der auch für kriminelle Organisationen interessant ist. Man kommt ganz nah an ältere, eingeschränkte und versorgungsbedürftige Menschen heran, die einem vielleicht den Zugang zum Konto ermöglichen.

Ist die Betreuung zu Hause ein Modell, das sich nur Besserverdienende leisten können?

Das konnte immer nur diese Minderheit. Die guten Vermittlungsagenturen, die über legale Entsendemodelle mit strukturierten Partnerfirmen und deren Angestellten gearbeitet haben, haben von Anfang an darauf geachtet, dass die Unterbringungsqualität für die Frauen gewährleistet sein muss, sonst haben sie gar nicht in eine Familie vermittelt. Das heißt aber, wir reden in der Regel über eine Einzelperson, die allein in einem Haus wohnt oder in einer so großen Wohnung, dass man problemlos ein oder zwei Räume und ein Bad zur Verfügung stellen kann.

Sind das also Leute, die sich die Entlohnung, die das Urteil vorschreibt, durchaus leisten könnten?

Für viele Familien, die das Modell nutzen, ist es aus ihrer Perspektive die einzige Möglichkeit, um ein Leben in der stationären Altenhilfe zu verhindern und das selbstständige Leben zu Hause weiter zu gewährleisten. Auch die Unterbringung in einer stationären Einrichtung ist schließlich sehr kostspielig. Dass das jetzt zu großen finanziellen Verwerfungen in den Familien führt, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Dass der illegale Sektor dadurch gestärkt werden könnte, ist nicht auszuschließen. Insgesamt sind die Nutzerinnen aber überwiegend aus dem reicheren Milieu. Deswegen gibt es an dieser Stelle auch ein Wegducken des Staates, da die Kosten auf die Familien zurückverlagert werden und keine Gemeinschaftsaufgabe darstellen. Der Staat engagiert sich dabei weder für die Rechte noch für die Integration der betreuenden Frauen in das bestehende Pflegesystem, wohl wissend, dass ohne diese Frauen das Pflegesystem in seiner jetzigen Form und Möglichkeit sofort kollabieren würde.

Machen es sich die beschäftigenden Familien zu leicht – weil sie eigentlich über Agenturen legale Beschäftigungsverhältnisse eingehen könnten?

Viele der Familien könnten sogar selbst und damit vollkommen legal als Arbeitgeber fungieren. Diese Möglichkeit besteht, aber sie wird nur in ganz geringem Umfang genutzt, weil es für die meisten zu viele bürokratische Hürden sind: das An- und Abmelden von Mitarbeitern, man muss gegebenenfalls Arbeitszeitkonten führen, man muss alle Aufgaben, die ein Arbeitgeber hat, erfüllen. Damit sind viele Familien überfordert. Hinzu kommt, dass sich viele Familien sicherlich der ethischen Fragen und Probleme gar nicht bewusst sind.

Haushaltskräfte

In Deutschland arbeiten schätzungsweise rund 300.000 Betreuungs- und Haushaltskräfte vor allem aus Osteuropa in Familien mit Betreuungsbedarf.

Nach einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom Juni 2021 müssen auch die Bereitschaftszeiten in der 24-Stunden-Betreuung mit dem Mindestlohn-Satz vergütet werden. Das betrifft etwa die Nächte.

Beim Entsendemodell ist eine Betreuungskraft bei einem ausländischen Unternehmen angestellt, das die Arbeitgeberabgaben bezahlt. Das Unternehmen entsendet sie für die Dauer der Beschäftigung nach Deutschland.

Warum nutzen nicht mehr Familien die Agenturen, wenn sie es sich eigentlich leisten können?

Die Notwendigkeit einer Lösung besteht oft sehr akut, sehr schnell und aus einer Notlage heraus. Die Krankenhaus­entlassung steht an, eine Eigenversorgung und -betreuung ist nicht gewährleistet und Kenntnisse über legale gegenüber irregulären Möglichkeiten liegen nicht vor. Da überwiegt die Suche nach kurzfristigen Lösungen und die Verlockung ist groß, über Mund-zu-Mund-Propaganda zu gehen, im Internet eine Sofortlösung zu buchen oder Kleinanzeigen aufzugeben, statt Beratung und Vermittlung in Anspruch zu nehmen, die möglicherweise erst in ein paar Wochen greifen kann.

Führt dieses Minderheitenmodell der Betreuung zu Hause dazu, dass sich die prekären Verhältnisse in der stationären Altenpflege verfestigen, weil die Lobby dagegen zu klein und machtlos ist?

Das ist eine große Fragestellung, was es innerhalb eines Systems bewirkt, wenn diejenigen, die sich ihm entziehen können, das auch machen, statt als Wortführer für eine Verbesserung einzustehen. Das haben wir aber bei der Rente genauso wie bei der Krankenversicherung oder der Bildung. Dass bei der Pflege deshalb das Gesamtsystem im Level niedriger gehalten werden kann, ist nicht auszuschließen. Aber dazu gibt es auch keine systematischen Arbeiten, die einen Zusammenhang darstellen.

Solange es ein wirtschaftliches Ost-West-Gefälle gibt, wird sich das Modell halten.

Wir haben immer gesagt, dass man sich auch innerhalb der Familien der ethischen Dimension klar werden muss: Wenn ich das mache, was bedeutet das eigentlich für das Herkunftsland? Das war eine Diskussion, die wir vor vielen Jahren mit Kollegen in der Ukraine geführt haben, die sagten: Wir haben hier mittlerweile Kinder, die haben zu Hause keine Eltern mehr, weil die Mutter auf Pflegemontage ist und der Vater beim Bau arbeitet. Das hat große gesellschaftspolitische Implikationen: Was bedeutet es denn, wenn wir die Versorgungskapazität aus Ländern abziehen, wo die Bevölkerung ihrerseits auch Hilfe braucht und auch ältere Bevölkerung da ist?

Wie könnte man versuchen, die vielen illegalen Beschäftigungen zu beenden?

Das findet zurzeit gar nicht statt. Der Zoll kann das weder personell leisten noch ist er rechtlich dazu in der Lage. Wobei mir wichtig ist zu betonen, dass weder die Familien mit ihren Lösungsversuchen noch die Frauen, die diese Arbeit leisten, kriminalisiert werden. Man muss Zugänge schaffen und das schafft man durch Unterstützung, nicht durch Bedrohung. Der Weg über zertifizierte Agenturen kann einer sein. Ein eigenes Betreuungshilfegesetz ein anderer.

In der Pandemie hat man gesehen, dass die Politik plötzlich das Thema der ausländischen Betreuungskräfte auf dem Schirm hatte.

Es war eine große Befürchtung da, dass es eine Unterversorgung von Pflegebedürftigen in den privaten Haushalten geben könnte, weil die Grenzübertritte für die Haushalts- und Betreuungskräfte anfänglich nicht gewährleistet waren. Und da gab es eine große politische Unterstützung. Die Agenturen sind an die Politik herangetreten und haben gesagt: Es kann nicht sein, dass Spargelstecher eingeflogen werden und Frauen, die als Betreuungskräfte im sensiblen Bereich arbeiten, keinen Grenzübertritt haben. Da hat man sehr schnell reagiert. Auf der anderen Seite haben die betreuenden Frauen auch vielfach gesagt: Die Ablösung kann nicht kommen, aber ich verlasse jetzt die Familie nicht, ich lasse die Leute nicht unversorgt zurück.

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