Pflegekinder mit Handicap: Inklusion als Bumerang
Hamburger Behörden unterscheiden nicht zwischen Pflegekindern mit und ohne Behinderung. Das kann potenzielle Pflegeeltern abschrecken – und für Kinder das Heim bedeuten.
„Dort sagt man: ‚Wir kennen keine Sonderpflege.‘“ Sonderpflege, das bedeutet Pflege für Kinder mit besonderem Bedarf und in vielen Bundesländern besondere Unterstützung für Familien, die diese Kinder als Pflegekinder aufnehmen. Hamburg verfolgt dagegen ein inklusives Modell. „Das klingt erst einmal gut“, sagt Alexandra Bossen, Geschäftsführerin des Hamburger Pflege- und Patenkinder Fachdienstes für Familien (Pfiff). „Das Problem ist, dass eine Pflegefamilie, die ein Kind mit Behinderung aufnimmt, einen tatsächlichen Mehrbedarf hat.“
Bossen kennt die Situation aus verschiedenen Blickwinkeln, denn Pfiff berät in zwei Hamburger Bezirken im Auftrag der Stadt Pflegeeltern. Im Hamburger Umland bietet der Fachdienst auch Beratungen zur Sonderpflege an.
Anderswo gibt es mehr Hilfe
In anderen Bundesländern bekommen Familien, die ein Pflegekind mit Behinderung aufnehmen, eine bessere finanzielle Ausstattung: beispielsweise Urlaubsgeld, einen Entlastungsbeitrag, um für ein paar Stunden Freizeit eine Hilfe ins Haus holen zu können. Auch Mehrbedarf, der etwa dadurch entsteht, wenn ein Kind Sondernahrung braucht, wird dadurch abgedeckt.
Außerdem werden die Familien bereits vor der Aufnahme des Kindes geschult. Sie haben zudem eine Fachkraft an ihrer Seite, die sie etwa dabei unterstützt, Kostenerstattungsanträge zu stellen und sie bei allen Fragen, die die Behinderung des Kindes betreffen, unterstützt. Während eine Familie, die ein nicht behindertes Kind in Vollzeitpflege nimmt, etwa mit 40 Minuten Betreuung pro Woche rechnen kann, sind es in der Sonderpflege drei Stunden pro Woche.
Es gebe auch in Hamburg gute Möglichkeiten für Pflegeeltern behinderter Kinder, sich Unterstützung zu holen, sagt Alexandra Bossen von Pfiff – „aber diese Familien brauchen Unterstützung, um dieses Netzwerk überhaupt in Anspruch nehmen zu können“. Von daher dränge sich der Eindruck auf, dass das Hamburger Inklusionsmodell nebenbei auch ein Sparprogramm ist.
Zahl der Betroffenen unklar
Wie viele Kinder in Hamburg davon betroffen sind, ist unklar. Da die Sozialbehörde aufgrund des Integrationsgedankens nicht zwischen Pflegekindern mit und ohne Behinderung unterscheidet, gibt es dazu keine Zahlen. Bei Pfiff sind etwa 35 bis 40 Prozent der Vollzeitpflegekinder behindert oder aufgrund traumatischer Erfahrungen von Behinderung bedroht.
Die Zahlen sind aber nicht direkt übertragbar, da Pfiff nicht Pflegefamilien betreut, die Verwandtschaftspflege übernehmen, bei der der Anteil behinderter Kinder mutmaßlich geringer ist. Noch schwieriger wird die Situation, weil nicht alle Behinderungen direkt nach der Geburt sichtbar sind. So wird das fetale Alkoholsyndrom, das mit schweren geistigen und körperlichen Einschränkungen einhergehen kann, oft erst spät diagnostiziert – und ist bei der Vermittlung der Kinder so noch gar nicht bekannt.
Die Sozialbehörde weist die Kritik zurück. Der Vorwurf, Hamburg verfolge mit dem inklusiven Ansatz de facto ein Sparmodell, sei „abwegig“, so Sprecher Marcel Schweitzer. Die Verwaltung dürfe nur solche Informationen erheben, die für die unmittelbare Ausübung des Verwaltungshandelns erforderlich sind. Das Jugendamt benötige kein Merkmal „Behinderung“, da „die Bandbreite an Unterstützungsleistungen für alle Familien identisch sind“.
Die Hamburger Sozialbehörde war in den vergangenen Wochen in die Kritik geraten, weil sie, so ein Vorwurf in der Welt, zu Unrecht Kinder mit Behinderung statt zu Pflegefamilien in Heime bringe. Grund sei die Verunsicherung der Hamburger Jugendämter, nachdem mehrere Kinder in der Stadt durch Misshandlungen oder Vernachlässigung zu Tode gekommen waren, eines davon in der Obhut von Pflegeeltern.
„Willkürliche Entscheidungen“
Kerstin Held glaubt, dass es möglich wäre, deutlich mehr Hamburger Pflegekinder mit Behinderung in Familien statt in Heimen unterzubringen: „Wir liefern sieben Familien für ein Kind und dann geht es doch ins Heim – das geht uns nicht in den Kopf.“ Sie glaubt, dass das „willkürliche Entscheidungen“ sind, bei denen auch finanzielle Bedingungen und Arbeitsüberlastung eine Rolle spielten: wenn das Jugendamt ein Pflegekind in ein Heim vermittle, gebe es die finanzielle und personelle Zuständigkeit an die Landesebene ab.
Alexandra Bossen von Pfiff teilt die Einschätzung, dass mehr Kinder mit Behinderung in Familien vermittelt werden könnten. Sie sieht die Ursachen aber an anderer Stelle: „Inklusion als politische Vorgabe steht sehr weit oben“, sagt sie. „Da muss eine Ausdifferenzierung der Unterstützung politisch gewollt sein – und im Moment scheint die Richtung nicht so zu sein.“
Die Folgen sind bitter. Laut Alexandra Bossen gibt es immer wieder Anfragen von Hamburger Jugendämtern, Kinder mit Behinderung in Pflegefamilien unterzubringen, die daran scheitern, dass Hamburg nicht bereit ist, den Mehrbedarf zu finanzieren. Das Amt sucht dann entweder einen Heimplatz oder Pflegefamilien außerhalb Hamburgs, die möglicherweise zu schlechteren Konditionen arbeiten.
Stadt schreckt Eltern ab
Letzten Endes schreckt die Stadt damit potenzielle Pflegefamilien ab – und das, obwohl die private Unterbringung deutlich günstiger ist als die in einem Heim. Bossen kennt auch den anderen Fall: Familien, die ein behindertes Pflegekind bei sich aufnehmen, obwohl schon im Vorfeld klar wird, dass die Bedingungen schlechter sein werden als ursprünglich angenommen.
Sie hofft darauf, dass Hamburg das ändert, „damit sich noch mehr Familien eine solche Pflege zutrauen“. Auch Kerstin Held vom Bundesverband behinderter Pflegekinder hofft weiter auf erfolgreiche Vermittlungen in Hamburg – und bleibt „an einer Verbesserung sehr interessiert“. Aus der Sozialbehörde heißt es, man arbeite an einer Regelung zur Vermittlung behinderter Pflegekinder. Einen Zeitrahmen gibt es allerdings nicht.
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