Pfiffe für den Kanzler bei Handball-EM: Die Politik der Tribüne
Die Pfiffe bei der Handball-EM gegen Scholz & Co werden als Protest gegen die Ampel gedeutet. Dabei geht es vielleicht eher um Grundsätzliches.
W ozu braucht es noch diese aufwendige Meinungsforschung, wenn man doch die deutschen Wählerinnen und Wähler in einer Sporthalle wie eine Ärztin mit dem Stethoskop abhören kann?
Die Handball-EM im eigenen Lande soll natürlich zuvorderst allen zeigen, was für eine tolle Sportart das ist. Einer der großen Nachrichten in der ersten Turnierwoche aber waren die schrillen Pfiffe gegen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sowie seine Kabinettskollegen Nancy Faeser (SPD) und Robert Habeck (Grüne), während die Oppositionspolitiker Hendrik Wüst und Daniel Günther (beide CDU) glimpflich davon kamen. Was lässt sich aber aus dieser scharfen Tonlage auf den Rängen ableiten?
Eine schlichte Diagnose wäre schnell erstellt. Deutschland ist eine Handballnation. Würde irgendjemand auf die Idee kommen, bei der EM unter den männlichen deutschen Besuchern mit den ulkigen schwarz-rot-goldenen Fanutensilien eine Vornamenabfrage durchzuführen, das Ergebnis würde von dem der deutschen Hauptdarsteller auf dem Parkett nicht stark abweichen. Die meisten Striche müssten bei Namen wie Andreas, David, Martin, Sebastian, Julian, Philipp, Nils, Kai, Christoph, Timo, Justus und Johannes eingetragen werden.
Und sollte jemand fragen wollen, welche Gesellschaft das eigentlich abbildet, könnte man sagen, dass so im Traum von Rechtsextremisten in etwa eine deutsche Gesellschaft nach Deportationen, Stichwort Remigration, aussehen würde. Kein Wunder also, dass in diesem Umfeld Politiker, die momentan in Regierungsverantwortung stehen, Unmut hervorrufen.
Votum für was eigentlich?
Aber das wäre so simpel wie falsch. Es ist bei den deutschen Namen genauso wie bei anderen. Aus ihnen lässt sich weder kriminelle Energie noch eine einheitliche Haltung ableiten. Alice Weidel (AfD) hätte bei dieser Handball-EM als Ehrengast gewiss ebenfalls schrille Unmutsbekundungen zu hören bekommen.
Das Problem ist, dass diese Form der Meinungsäußerung wenig Differenzierung zulässt. Selbst wenn die Hälfte in der Halle die Lippen still hält, bleibt der Eindruck haften, das Publikum hätte ein überwältigendes Votum abgegeben. Aber zu was denn eigentlich? Zur laschen Klimapolitik, zum Heizungsgesetz, zur Asylpolitik oder zur nächsten Bundestagswahl?
Der Fantasie sind da kaum Grenzen gesetzt. Vielleicht sollten jedoch die Reaktionen eines Sportpublikums, das für gewöhnlich auf die scheinbar kleinsten Ungerechtigkeiten auf dem Spielfeld mit einem gellenden Pfeifkonzert reagiert, etwas nüchterner bewertet werden. Möglicherweise haben es viele auch einfach satt, dass Politiker sich in den letzten Jahren verstärkt in den Sportarenen herumtreiben, im Glauben, die gemeinsam vorgelebte Sympathie für ein Team könne bei der nächsten Wahl ihrer politischen Karriere nützlich sein.
Helmut Kohl war der erste Kanzler, der 1996 nach dem EM-Gewinn der deutschen Fußballer gar bis in deren Kabine vordrang. Die Kabinenfotos von Angela Merkel mit Mesut Özil waren von Anfang an für das große Publikum gedacht. Warum wird zuschauenden Politkern überhaupt diese exponierte Bühne geboten, auf der sie als Ehrengäste begrüßt zu Hauptdarstellern werden? Möglicherweise waren die Pfiffe bei der Handball-EM vor allem ein Votum dafür, mit diesem Unsinn endlich einmal aufzuhören.
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