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Peter UnfriedIm Wunderland

■ "Friedrich, es regnet" - Neun Millionen Regentage für Fritz Walter

„War es denn einmal Wirklichkeit?“ (Fritz Walter)

Wahrscheinlich werden Sie mich für verrückt oder übergeschnappt halten. Aber immer, wenn es regnet, muß ich daran denken. Dann bin ich glücklich. Naja. Es scheint, als habe dieser Herbst sonst nur furchtbare Dinge zu bieten wie Nebel, Halsweh, Ribbeck, Harry Kleins ruhmloses Ende und Kati Witt im Playboy. Da tut der Regen gut.

Als Tschärri vorbeikommt, kaum daß sie aus den nassen Klamotten raus ist, sage ich: Weißt Du eigentlich, warum Deutschland damals gewonnen hat?

Tschärri ist schätzungsweise Mitte zwanzig und weiß es „nicht so richtig“.

Weil Fritz-Walter-Wetter war, du Dummes.

–?–

Niederschlag in flüssiger Form.

Es ist schlimmer als befürchtet. Sie schätzt, das sei relevant gewesen, weil der Fritz da „besser reinschleifen“ konnte. Unsinn. Der Regen beschleunigte Walters akkurate Pässe und linderte außerdem sein in den Fünfzigern vieldiskutiertes Hämorrhoidenleiden, Tschärri.

Morgens war ja noch keine Wolke am Himmel gewesen. Aber als der Chef die Männer in Spiez in den Bus setzte, ging es los. Maxl Morlock war es, der die berühmten drei Worte sprach: „Friedrich, es regnet!“ In Wankdorf regnete es an diesem 4. Juli 1954 dann tatsächlich die ganzen 90 Minuten. Allerdings: Landregen. Eigentlich zog Walter ja den kleintropfigeren Nieselregen vor. Der fiel auch langsamer. Aber, naja.

Tschärri gähnt. Da weiß ich: Mit den letzten Zeitzeugen droht auch dieser einst so mächtige Mythos in den Nebeln der Zeit zu verschwinden wie Woodstock, Religion, Willy Brandt oder Bob Dylan.

Ich singe zu Tschärri (testhalber): Oh, where have you been, my blue-eyed son?

Tschärri (mit einer Art Sprechgesang): Es wird Regen geben. Es wird Regen geben.

Jugend! Ich sage: Puskas hätte sich konzentrieren müssen und mit seinen Ungarn „no rain, no rain“ brüllen. Dieser stolze Kapitän aber brummte: „Ist sich Madjar alles gleich, ob Regen oder Sonne.“ Von wegen. Hätte in Bern die Sonne geschienen, hätte Bozsik nie den Ball verloren gegen Schäfer, Tschärri. Und Schäfers Flanke wäre nie bis zu Rahn durchgekommen, und Rahns Linksschuß wäre nie so schnell über den glitschigen Rasen an... wie hieß der Torwart, Tschärri?

Tschärri zeigt mir einen Finger, von dem sie sagt, daß sie genau wisse, wie der heißt: Effe.

Seufzend sage ich:... Grocsis' nassen Händen vorbei ins Eck geflutscht.

Draußen schüttet es inzwischen. Es ist schwer, aber ich harre aus und sage: Tor für Deutschland. Tschärri gähnt schon wieder. Ich sage: Männer, nur sechs Minuten noch. Ich muß diese Sätze sagen. Jedem. Immer. Der Mythos verschwindet, wenn er nicht in den Köpfen der Jungen am Leben gehalten wird.

Was hat Tschärri da gezischt? Mir habe es wohl ins Hirn geregnet. Und die Deutschen hätten letztlich nur gewonnen, weil Liebrich beim 3:8 im Baseler Vorrundenspiel Puskas so brutal zuammentrat? Entsetzt greife ich zu meiner Nachbildung des Coup Jules Rimet, versuche, sie mir damit vom Leib zu halten und beende ohne weitere Diskussion unsere siebenjährige, aber offenbar nur auf körperlicher Harmonie beruht habende Beziehung.

Tschärri steht noch dumm rum, aber da krame ich bereits in meiner Plattensammlung, um eine Top Five zu Ehren von Fritz Walters 78. Geburtstag (31. Oktober!) zusammenzustellen. Ich höre, wie sie zur Tür geht. In Basel schien die Sonne, Tschärri, flüstere ich. Unlängst war der Fritz im Fernsehen, und sprach wie üblich in bewegten Worten vom Chef und vom Boss. Und dann sagte er: „Ich habe am 4. Juli um Regen gebetet.“ Und ich, Tschärri, vor Wembley 1972. Die letzten Worte schreie ich: Um- Regen-gebetet, Tschärri! Regen. Keiner wankt. Dann wird der Zellenschlüssel zweimal gedreht.

*

Meine Top Five für Fritz Walter: 1. Happy When It Rains (The Jesus and Mary Chain), 2. A Hard Rain's-A Gonna Fall (Bob Dylan), 3. Nine Million Rainy Days (The Jesus and Mary Chain), 4. Rain (The Beatles), 5. Looks Like Rain (Grateful Dead)

*

Vor langer Zeit ging ich zum Bahnhof Zoo, und da standen sie. Italia und ihr Fritz. Im nassen Mantel, ein Köfferchen in der Hand, ein gütiges Lächeln im Gesicht. „Kinder, jetzt geht die Welt unter“, flüsterte ich. Wie Friedrich damals nach der Siegerehrung. Dann ging ich schnell nach Hause. Der Regen prasselte unaufhörlich hernieder.

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