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Performancekünstler John GiornoDas bedingungslose Gefühl im Zentrum

Was macht seine flüchtige Spoken-Word-Kunst wieder aktuell? Der New Yorker Warhol-Muse John Giorno gelten gerade eine Ausstellung und Buchneuerscheinung.

John Giorno perfromt beim City Lights Italia Festival am 4. Mai 1998 Foto: Michele Corleone

Auf Tischen in der Mitte des hellen Raums liegen rund hundert Dokumente. An den Wänden projizieren Beamer leise sich loopende, körnige Bewegtbilder. Darauf sprühen Hände mit Schablone: „John Giorno’s DIAL-A-POEM 312-628-0400“. Das Bild gleitet den lederbejackten Arm entlang, auf das breit grinsende Gesicht eines dunkelhaarigen Mannes. Markantes Kinn, Koteletten, Pilotenbrille. Der Mann scheint aus dem Bild zu schweben, die Kamera schwebt mit, erklärt seine sanften Bewegungen im Schwenk auf die angeschnallten Rollschuhe. Es sind nur wenige Sekunden, die den Künstler John Giorno beim Anbringen der Werbung für seine wohl wichtigste Erfindung, das Gedichttelefon, zeigen. Doch sie scheinen den Geist dieses gutmütig aufmüpfigen Grenzgängers ins Mark zu treffen. Betrachtet man sie, denkt man plötzlich ihn zu kennen.

Ihn, den Mann, der 1963 in hartem Schwarz-Weiß-Kontrast weltbekannt wurde – als sechs Stunden lang schlafender Schöner in Andy Warhols Kunstfilm „Sleep“. Doch während sich Warhol, seinem ehemaligen Liebhaber, Ausstellung um Ausstellung auf der ganzen Welt widmen, blieb der 1936 ­geborene John Giorno in Europa doch für viele Menschen lange eine eher unbekannte Figur in den hinteren Reihen der New Yorker Nachkriegs-Kunstszene. Zu flüchtig ist Giornos Werk.

Doch es scheint sich etwas zu verändern. Gerade widmete die Triennale Milano dem Künstler eine schmale Archiv­ausstellung, die dieser Tage zu Ende geht, und kürzlich erschien seine ­Autobiografie im Verlag Secession in deutscher Übersetzung.

Das unscheinbare Herz seiner Arbeiten liegt nun in Mailand, im „Cuore“ genannten öffentlichen Archivraum der Triennale: die Ephemera und Dokumente eines Lebens, das sich ganz dem gesprochenen Wort widmete – und dem gehörten. „A Labor of LOVE“ heißt die Schau dann voll Pathos, kuratiert ist sie auch vom Mailänder Kunstmesse-Direktor Nicola Ricciardi mit Unterstützung der vom Künstler 1965 gegründeten Plattenfirma „Gior­no Poetry Systems“. Zuvor hatte Giorno seinen Beruf als Broker hingeschmissen, nachdem er Andy Warhol kennengelernt hatte. Dieser wiederum hatte ihn zu Spoken-Word-Experimenten er­muntert.

Die Ausstellung

John Giorno: a labour of LOVE“. Triennale Milano, bis 13. April.

Durch Warhol lernt Giorno alle kennen: William S. Burroughs, John ­Ashberry, Ted Barrigan und Allen Ginsberg, Robert Rauschenberg, Jasper Johns, John Cage, Robert Mapplethorpe, später Laurie Anderson, David Byrne, Patti Smith, Nick Cave. Seine Freundschaften reichen tief in die New Yorker Sub­kultur der Beatniks. Aus und mit diesem sozialen Netz entstehen seine Arbeiten.

John Giorno, 1965 fotografiert im Chelsea Hotel von William S. Burroughs Foto: William S. Burroughs

Dial-a-poem

1969 verbindet Giorno 15 Anrufbeantworter mit Wählscheibentelefonen. Auf jedem läuft ein anderes Gedicht. Von überall in Amerika kann man anrufen: Dial-a-poem ist geboren. „We shall have everything we want, and there will be no more dying“, klingen da beispielsweise dringlich die gepressten Worte Frank O’Haras vom Band. Giorno und seine Freunde machen Werbung für die Hotline, immer mehr rufen an: „Am meisten los war in der Zeit von 9 bis 17 Uhr, sodass man davon ausgehen konnte, dass all die Menschen, die in New Yorker Bürogebäuden an ihren Schreibtischen sitzen, viel Zeit am Telefon verbringen“, zitiert die New York Times Giorno im Jahr 2005, doch auch nachts, wenn die Schlaflosigkeit in den Wolkenkratzern zuschlägt, klingeln die Hotlines.

Schließlich stellt das MoMA die Anrufbeantworter aus. Giorno organisiert Happenings, schreibt Gedichte, produziert Platten voller gesprochener Worte und Kunst der Freunde auf den Covern. Es folgen die Achtziger und mit ihnen der Faustschlag der Aids-Epidemie, der die New Yorker Kunstszene mit voller Wucht trifft. Als Reaktion gründet Giorno das „AiDS Treatment Project“: veranstaltet Konzerte, Lesungen, Performances, um Geld zu sammeln.

Faustschlag der Aids-Epidemie

Die schmerzhaften Zeugnisse dieser Zeit liegen nun in den Vitrinen der Triennale wie im Schneewittchensarg. „Treat a stranger as a lover, hug them as good friends […]“, steht auf Plakaten, Auszüge aus Magazinen berichten vom Horror des Sterbens, vom Versagen der Politik. „None oft them wanted to go“ heißt die Überschrift eines Artikels, der Robert Mapplethorpes Aufbäumen gegen den unausweichlichen Tod so eindringlich beschreibt, als stände man neben ihm, als könne man Blut und Auswurf riechen.

Das Buch

John Giorno: „Große Dämonenkönige“. Secession, Zürich 2024, 346 Seiten, 30 Euro.

Mehr als 50 Jahre, unzählige Schallplatten, ein Internet, diverse Social-Media-Netzwerke und eine neue, ganz andere Pandemie später hat Giornos Hauptwerk nichts an Poetik oder Relevanz verloren. Das bedingungslose Gefühl im Zentrum seines Werks, die Fürsorge, die Bescheidenheit und das stets Flüchtige, das sich bis zum Ende (fast) gänzlich der Marktlogik der Kunst entzieht, scheinen heute wieder progressiv und aktuell: „[…] Now that life is ravaged offer love from the same root of boundless compassion“.

Hinweis: Die Recherchen wurden von der miart/Fiera Milano unterstützt.

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