Parlamentswahlen in Frankreich: Wer reicht ihm die Hand?
Emmanuel Macrons Parteienbündnis Ensemble! verliert die Mehrheit bei den Parlamentswahlen. Die Mitbewerber reagieren erst einmal schadenfroh.
Borne möchte versichern, dass die knappe Mehrheit für Macrons Parteienallianz Ensemble! nur eine relative Niederlage sei und keine „Ohrfeige für Macron“, wie viele Zeitungen im In- und Ausland auf ihrer Titelseite schrieben. Die Offerte einer Zusammenarbeit (an die Adresse: whoever wants) brachte allerdings nicht das erwartete Ergebnis. Die eventuell infrage kommenden Fraktionen reagierten zunächst lieber mit schadenfrohen Kommentaren zur schallenden Ohrfeige, die der Präsident von den Wahlberechtigten erhalten hat. Niemand zeigte sich offen für die Rolle des Lückenbüßers in einer Nationalversammlung ohne klare Mehrheitsverhältnisse.
Denn im Unterschied zu parlamentarischen Demokratien in Deutschland oder Österreich sind Koalitionen zwischen Parteien, die sich sonst kritisieren oder bekämpfen, nicht üblich in Frankreich. Große Koalitionen – etwa von Sozialdemokraten, Liberalen und Konservativen oder „Regenbogenkoalitionen“ von rechts mit Grünen – gelten in der Fünften Republik, seit General Charles de Gaulles Rückkehr an die Macht 1958, als verpönt. Er hat den Staat mit einem Präsidialsystem so eingerichtet, dass der vom Volk gewählte Staatschef in allen Bereichen entscheidet, das Parlament nickt brav dazu. Der Widerstand gegen die Regierungspolitik wird dadurch fast unweigerlich auf die Straße verlagert: Wer nicht einverstanden ist, der streikt, demonstriert und schmeißt Pflastersteine wie im Mai 68 oder bei der Protestbewegung der Gelbwesten. Politik ist eine Kampfsportdisziplin, die Konsenssuche wäre schon fast das Eingeständnis einer Niederlage.
Darum zeigen sich heute weder die linke Volksunion NUPES (Neue Ökologische und Soziale Volksunion) und ihre einzelnen Bündnispartner (France insoumise um Jean-Luc Mélenchon, Sozialisten, Grüne und Kommunisten) noch das rechtsextreme Rassemblement National (RN) an irgendeiner Form der Kooperation interessiert. Die NUPES wird mit 142 Sitzen die stärkste Oppositionskraft und will diese Karte ohne Zugeständnisse ausspielen, um der Regierung bei dem Versuch, ihre unsozialen Reformen durchzusetzen, das Leben schwer zu machen.
Empfohlener externer Inhalt
Marine Le Pens RN-Fraktion kann sich damit brüsten, den bisherigen „Cordon sanitaire“, den Schutzwall gegen die extreme Rechte, definitiv durchbrochen zu haben. Weder die Absprachen der anderen Parteien noch das französische Mehrheitswahlrecht haben dieses Mal verhindern können, dass RN mit 89 Abgeordneten in etwa seinem Wähleranteil entsprechend in die Nationalversammlung einzieht.
Éric Ciotti, Abgeordneter von Les Républicains
Mehr Attacken von rechts
Marine Le Pen wollte ihre extremistische Partei aus der Isolation holen und sie „salonfähig“ machen. Dieses Ziel hat sie erreicht. Jetzt wird sie die ganze parlamentarische Kraft darauf verwenden, die zukünftige Regierung vor allem in der Sicherheits- und Migrationspolitik von rechts zu attackieren. Von einem „Kompromiss“ will sie bestimmt nichts wissen. Und tatsächlich fragt niemand sie, ob das immer noch „unberührbare“ RN gar zu einem Koalitionsvertrag bereit wäre.
Auch die Konservativen, die bei den Wahlen gerade noch mal ihre Haut gerettet und mit 64 Sitzen den definitiven Abstieg in die Liga der Splitterparteien vermieden haben, wollen offiziell nichts von einer Rolle als Minderheitspartnerin in einer Koalition wissen. Der Vorsitzende der konservativen Partei Les Républicains (die unlängst noch mit Nicolas Sarkozy an der Macht war), Christian Jacob, hat zwar nicht alle Türen für spätere Diskussionen geschlossen, jedoch verspricht er dem Staatspräsidenten Macron, den er einer „destruktiven Politik“ bezichtigt, derzeit bestenfalls eine „konstruktive Opposition“.
Seine Partei habe aber nicht die geringste Absicht, dem nun in Not geratenen Regierungslager des Präsidenten jeweils die nötigen Stimmen zu liefern, um bei den Abstimmungen der Nationalversammlung gerade noch die erforderliche Mehrheit zu erreichen. Es sei nicht an der bürgerlichen Opposition, den in Schwierigkeiten steckenden Macron zu „retten“. Auch der in Nizza wiedergewählte Le-Républicains-Abgeordnete Éric Ciotti, der den rechten Parteiflügel repräsentiert, meinte hämisch: „Ich glaube nicht, dass wir als Ersatzreifen für den Macronismus herhalten sollten.“
„Wir haben unsere Kampagne als Opposition gemacht, wir sind und bleiben in der Opposition“, sagte mit Pokerfacemiene LR-Chef Jacob. Das wird kaum sein letztes Wort in Sachen Bündnispolitik sein. Hinter den Kulissen haben schon vor der Bekanntgabe der definitiven Wahlergebnisse die Verhandlungen begonnen. Dabei geht es um eventuelle Ministerposten in einer neuen Regierung, die trotz der geringen Sitzzahl für Macrons Allianz Ensemble! (246 von 577) eine Chance hätten, eine Vertrauensabstimmung zu überstehen. Wer an der Spitze eines nach rechts erweiterten Teams stehen könnte, ist dabei offen.
Der Präsident äußert sich bisher nicht
Theoretisch sind die Tage von Élisabeth Borne als Premierministerin bereits gezählt, doch kann es sich Präsident Macron wirklich politisch leisten, sie nur einen Monat nach ihrer Ernennung (womöglich durch einen Mann) zu ersetzen? Das würde ihm zweifellos als Beleidigung der Geschlechtergleichheit vorgeworfen. Borne war seit Édith Cresson 1991 die erste Frau auf dem Regierungschefposten. Da sie am Sonntag selbst in einem Wahlkreis in der Normandie als Abgeordnete gewählt wurde, wäre sie zumindest nicht als Politikerin arbeitslos, falls Macron zur Umbildung seiner Regierung im Extremfall einen Ersatzmann holen sollte. Zu seinen Plänen und auch zur Analyse der für ihn verheerenden Wahlergebnisse hat sich der Präsident bisher nicht geäußert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen