Parlamentswahl in Venezuela: Opposition mit Zweidrittelmehrheit
Die Auszählung ist beendet, Venezuelas sozialistische Regierungspartei wurde abgestraft. Staatspräsident Nicolás Maduro forderte seine Minister zum Rücktritt auf.
QUITO epd | In Venezuela hat die Opposition eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erreicht und kann damit Verfassungsänderungen durchsetzen. Laut offiziellem Endergebnis kommt das Parteienbündnis der Demokratischen Einheit (MUD) auf 112 der 167 Sitze, inklusive der drei indigene Vertreter. Die sozialistische Regierungspartei PSUV von Präsident Nicolás Maduro kommt auf 55 Abgeordnete, wie der Nationale Wahlrat am Dienstagabend mitteilte.
Mit dem Ergebnis drehen sich die Verhältnisse in der Nationalversammlung um. Die Regierungspartei PSUV hat erstmals seit 16 Jahren die Mehrheit verloren und kommt nur noch auf gut die Hälfte ihrer bisherigen Abgeordneten.
Präsident Maduro forderte seine Minister zum Rücktritt auf. Damit solle ein „Prozess der Restrukturierung und Erneuerung“ ermöglicht werden, sagte der Staatschef am Dienstagabend in seinem wöchentlichen Fernsehprogramm. Zu den Ursachen der Niederlage der Chavisten bei den Parlamentswahlen am Sonntag zählen die schwere Wirtschaftskrise und Versorgungsengpässe bei Produkten des täglichen Bedarfs.
Das Oppositionsbündnis kann mit der Zweidrittelmehrheit Verfassungsreformen anstoßen und Posten am Obersten Gericht bestimmen. Bereits die qualifizierte Mehrheit (mindestens 101 Sitze) reicht aus, um Ermächtigungsgesetze zu beschließen und zurückzunehmen. Präsident Maduro hat in seiner Amtszeit immer wieder Dekrete ohne Zustimmung des Parlaments erlassen.
„Mit der Mehrheit, die wir erreicht haben, kann man praktisch alles machen“, sagte Henry Ramos Allup, Generalsekretär der Oppositionspartei Acción Democrática, laut einem Bericht der Zeitung „El Nacional“. Zugleich stellte er klar, die Opposition werde in der Nationalversammlung keinen Krieg gegen die Regierung führen. Das neu gewählte Parlament tritt am 5. Januar zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Die Legislaturperiode geht bis 2021.
Leser*innenkommentare
Henning Lilge
Diese Information erhält der TAZ Leser bisher nicht und sie ist doch sehr aufschlussreich über den "Misserfolg" der regierenden PSUV (aus "junger Welt" vom 09.12.2015):
Die Opposition hat diesmal vom venezolanischen Wahlsystem profitiert, das die deutsche Konrad-Adenauer-Stiftung noch wenige Tage vor der Abstimmung als »ungerecht« bezeichnet hatte. Ebenso wie die venezolanische Opposition hatte die deutsche Stiftung gefordert, die relative Bevorzugung bevölkerungsschwacher Regionen aufzugeben und das landesweite Ergebnis der Wahlen direkt auf die Sitzverteilung des Parlaments zu übertragen. Das hätte bedeutet, dass die Opposition von ihrer jetzigen Mehrheit weit entfernt geblieben wäre. Die aus knapp 20 einzelnen Parteien bestehende MUD kam auf 7,7 Millionen Stimmen, was 56,2 Prozent entspricht. Der »Große Patriotische Pol« (GPP) aus PSUV, Kommunistischer Partei (PCV) und anderen Linkskräften erreichte mit 5,6 Millionen Stimmen 40,8 Prozent. Gegenüber der Wahl 2010 bedeutet das einen Verlust von 200.000 Stimmen, der sich wegen der gestiegenen Beteiligung jedoch in einem Minus von 7,3 Prozentpunkten ausdrückt. Demgegenüber gewann die Opposition 2,4 Millionen Stimmen beziehungsweise neun Prozent hinzu.
Mit freundlichen Grüssen
Henning Lilge
nzuli sana
Gibt es eine Klassenstrukturelle und sozialpolitische Zwischenbilanz der Jahre 1999-2015?
minato
Chavez hat allen ETA- u.a. Terroristen, die es wollten, Unterschlupf geboten.
Jede funktionierende Firma wird verstaatlicht, die Chef- und Abteilungsleiterposten bekommen Chavistas und deren Verwandte. Die haben zwar 1A Chavista Gesinnung, aber keine Ahnung und auch keine Lust zum *Arbeiten*.
Und nach 1-2 Jahren ist der Laden gegen die Wand gefahren.
Es betraf auch kleine Firmen, Hauptsache es war etwas zu holen.
Wenn man dann noch kleine Jungs mit bunten Halstüchern der Jugendpionierdingswasliga sieht, die ihren Elten sagen: "Papa, du bist so ein Reaktionär, ich müßte dich melden..."
Ardaga
Teil 1:
Zuerst zum Sehr Guten: Im Gegensatz zu vielen autoritären Rechten der
jüngeren Geschichte Lateinamerikas haben die Chavisten das
Wahlresultat und ihre krachende Niederlage anerkannt. Und scheinen
sich zurück (in die Oppositionsrolle) zu ziehen. („Scheinen“, weil
abzuwarten ist, wie sich das chavistisch getrimmte Militär verhalten
wird.)
Dann zum Guten: Es geschah in den letzten drei Jahrzehnten nur ganz
wenige Male, dass ich mich gut/erleichtert fühlte, nach Brasilien (wo
ich die meiste Zeit meines Lebens verbringe, und wo das Überleben
abseits der urbanen Elektrozaun-Ghettos und der Agrofaschisten-Nuklen
der kaufkräftigen Schichten alles nur nicht einfach ist) wieder
einzureisen. Dass war (mehrmals) zurückkommend aus der paraguayischen
Diktatur, und: aus dem chavistischen Venezuela (kurz bevor Chávez
verstarb). Wo das Leben, die einfachsten Dinge, die rudimentärsten
Elemente die mit dem Sammelbegriff „Gerechtigkeit“ zu verstehen sind,
ein permanenter Alptraum geworden waren.
Ardaga
Teil 2:
Und also zum Hoffentlichen: Die (falsch/ignorant) so betitelten
„linken“ Machtcliquen, die Lateinamerika erst mit Hoffnung und sehr
schnell mit Enttäuschung und Wut erfüllten, ob ihrer „angewandten
Egalität“, die sich nur in Sachen Korruption und Autokratismus und
Machtabsicherung und – von Euren „KorrespondentInnen“ übernommene
Lügenstatistiken – manifestiert hat, sind nun wieder (Brasilien und
die anderen folgen noch) von rechten/neoliberalen oligarchischen
Machtcliquen regiert. (Als Konsequenz vulgo „dank“ der falschen
„Linken“.) Und selbstverständlich werden auch diese nur zum Status Quo
der Sozialen Ungerechtigkeit und der Umweltvernichtung pro Profit
(weiter) beitragen. Was daran Hoffnung auslöst?
Dass vielleicht endlich mal die LateinamerikanerInnen den Moment des
Wählens als Abschluss einer reiflichen, jahrelangen, aktiven Beobatung
und Evaluierung des (fast durchwegs faulen) Angebots angehn. Oder
gleich selbst und ohne „RepräsentantInnen“ res publica angehn (siehe
Chiapas). Und nicht allweil die gleichen Plünderer und Zerstörer ins
Raubamt hieven. Unabhängig von den obsoleten Links-Rechts-Etiketten,
die sie fantasie-tragen. Schüler und Studenten in Chile, Argentinien,
Brasilien, Indigene in Ekuador (...) geben da hoffnungsspendende
Signale.
Pfanni
Es ist vielleicht nur ein Neben-Aspekt: Aber jetzt wird klar, weshalb Edward Snowden vor 2 Jahren die Einladung zum Asyl in Venezuela nicht etwa freudig angenommen, sondern nach längerer Bedenkzeit ausgeschlagen hat. Er tat gut daran. Wer weiß, wie lange die Chavisten bei den neuen Machtverhältnissen seine Auslieferung in die USA hätten verhindern können. Snowden hatte wohl schon damals nicht das rechte Vertrauen zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Venezuela.
Vielleicht wäre er jetzt schon auf dem „Heimweg“ (in die USA)!