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Parlamentswahl in FrankreichWie, Wahl?

Im französischen Präsidialsystem haben die Abgeordneten meist wenig zu sagen. Dennoch sind die Sitze in der Nationalversammlung begehrt.

Lachsalven, Zwischenrufe, Hühner­gackern – so geht es zu in der französischen National­versammlung Foto: Xose Bouzas/Hans Lucas/imago

PARIS taz | Wahlen? Welche Wahlen? Mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten in Frankreich wissen nicht, dass am Sonntag die Abgeordneten der Nationalversammlung gewählt werden, oder aber sie haben nicht die Absicht, ihre Stimme abzugeben. Die Regierung versucht es auf die lustige Art, die Bürgerinnen und Bürger fast in letzter Minute noch zu informieren und für den Urnengang zu motivieren.

Auf einem in den Tageszeitungen meist auf der letzten Seite vier Tage vor dem Wahlsonntag publizierten ganzseitigen Comic wird in Sprechblasen auf die zentrale Frage geantwortet: „Wozu wählt man 577 Abgeordnete?“

Es folgt ein Staatskundeunterricht im Eilverfahren: 577 Sitze in der ­Nationalversammlung sind zu ver­geben, weil es in Frankreich 577 Wahlkreise gibt, und in jedem ist – nach einem strikten Mehrheitswahlrecht – ein Sitz zu gewinnen. Es gibt keinen Trostpreis, keine Restmandate oder andere Formen der Verteilung von Sitzen nach Stimmenanteilen der Parteien, sondern einen Sitz für einen Gewinner oder eine Gewinnerin.

Pro Wahlkreis geht leer aus, wer nicht im ersten oder zweiten Wahlgang siegt. Und in der Folge ist es nicht die Partei, welche die Wahlen gewinnt, die den Premierminister oder die Premierministerin stellt, sondern es ist der Präsident oder die Präsidentin, der ihn oder sie nach eigenen Kriterien nominiert. Abgeordnete oder sonst gewählte Volks­ver­tre­te­r*in­nen müssen weder die Re­gie­rungs­che­f*in­nen noch die Mi­nis­te­r*in­nen sein. Immer häufiger werden sie ohne parlamentarische Erfahrung als politische Ama­teu­r*in­nen aufgrund universitärer Laufbahn oder beruflicher Erfahrungen ernannt.

taz am wochenende

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In Stichworten werden im Comic des Innenministeriums die Aufgaben und Zuständigkeiten der Abgeordneten aufgelistet: Sie sitzen und debattieren in der Nationalversammlung, sie stimmen über Gesetzestexte ab, können selber Gesetzesvorschläge oder Änderungen an Vorlagen einbringen, sie stimmen namentlich über den Staatshaushalt ab und beaufsichtigen die Tätigkeit der Regierung, die vor den beiden Parlamentskammern, der Nationalversammlung und dem Senat, verantwortlich ist und regelmäßig bei einer Sprechstunde auf die Fragen der Abgeordneten antworten muss. Wie die Institutionen zusammenarbeiten, wie sie sich gegenseitig beaufsichtigen, illustriert wiederum ein besonders kompliziert aussehendes Schema mit unzähligen bunten Pfeilen auf Wikipedia.

Die Macht des Parlaments in Frankreich ist seit 1958 beschränkt. Die Verfassung der Fünften Republik stärkt sehr einseitig die staatliche Exekutive und vor allem die Macht des vom Volk gewählten Staatsoberhaupts. Der oder die Staats­prä­si­den­t*in muss es dank dieser Verfassung mit der Gewaltentrennung nicht so genau nehmen. Er oder sie steht zugleich an der Spitze der Exekutive und der Streitkräfte, beaufsichtigt die Justiz, ernennt aber auch den oder die Re­gie­rungs­che­f*in und die Minister*innen, kann diese auch absetzen oder das Parlament auflösen, um so bei Bedarf mit Neuwahlen die Karten neu zu mischen.

Die Abgeordneten dagegen sind und waren vor allem in den letzten Jahren der ersten Amtszeit von Emmanuel Macron nur dazu da, die im Ministerrat unter Vorsitz des Präsidenten bereits vordiskutierten und vorentschiedenen Gesetzesvorlagen durchzuwinken. Der Senat, in dem derzeit noch bürgerliche Konservative eine Mehrheit haben, kann die Prozedur der Gesetzgebung allenfalls bremsen.

Um ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, haben die Abgeordneten jedoch andere Mittel gefunden. Wenn ein*e Mi­nis­te­r*in vor der Ratsversammlung die eigene Politik gegen die Kritik verteidigt, ist sie oder er wegen ständiger Zwischenrufe oft kaum zu verstehen. Und umgekehrt schämen sich die Ver­tre­te­r*in­nen der Regierungsmehrheit nicht, in derselben, manchmal unflätigen Manier lautstark während Reden der Opposition zurückzupoltern.

Um ihre Unzufriedenheit auszudrücken, legen die Abgeordneten eine unflätige Manier an den Tag

Die vom öffentlich-rechtlichen Fernsehsender LCP (La Chaîne Parlementaire) übertragenen Debatten in der Nationalversammlung bekommen so manchmal einen echten Unterhaltungswert bei einem sonst eher trockenen Programm. Es gibt immer wieder Witzbolde unter den Politiker*innen, wenn sich ihrer Meinung nach ein Thema für rhetorische Anspielungen anbietet, wie kürzlich etwa bei einer Debatte über die Luftverschmutzung und Klimaerwärmung durch die Fürze der Kühe.

Ein Spezialist der von Lachsalven begleiteten Unterbrechungen war in den letzten drei Amtszeiten der Abgeordnete (und kürzliche Präsidentschaftskandidat) Jean Lassalle aus den Pyrenäen. Dessen Auftritte zirkulieren wie Sketche eines Humoristen auf ­Youtube. Einmal überraschte er im Halbrund des Ratsaals seine halb eingenickten Kolleg*innen, indem er aufstand und ohne Vorwarnung dröhnend ein Schäferlied im Dialekt seiner Region anstimmte.

Manchmal sind die höhnisch gemeinten Zwischenrufe überhaupt nicht humorvoll, gelegentlich geht das Zischen und Buhen im Chor eindeutig zu weit, dann muss der oder die Vorsitzende der Nationalversammlung energisch auf das Pult klopfen. Meist völlig vergeblich bittet die Person um Ruhe oder um ein Minimum an Anstand, wenn beispielsweise sonst seriös wirkende Herren in Anzug und Krawatte bei der Ansprache eines gegnerischen Ratsmitglieds wie Schafe blöken oder – mit Vorliebe, wenn eine Frau spricht – gackern wie Hühner.

Die Zeiten, als eine Ministerin Be­merkungen oder Pfiffe wegen eines scheinbar kurzen Rocks erntete, sind wenigstens vorbei. Denn die #MeToo-Kampagnen haben auch die Parlamentspolitik erreicht. In Frankreich ist die zum Teil noch bis heute eine Männerdomäne, in der sexistische Witze oder Anspielungen seit jeher wie ein Kavaliersdelikt toleriert wurden. Die Aufsichtsstelle für Geschlechtergleichstellung hat nun 2020 in einem Bericht den Sexismus im Ratssaal kritisiert und die Betroffenen aufgefordert, Beschwerden beim Aufsichtsrat einzureichen.

Gesprächsstoff bieten auch die ­„Privilegien“ der Volksvertreter*innen. In der aktuellen National­versammlung bezeichneten sich gerade einmal 2 als ehemalige Arbeiter und 24 von 577 als Angestellte. Das Netto-­Monatsgehalt beträgt derzeit 5.680 Euro. Hinzu kommt eine pauschale Entschädigung der Spesen in Höhe von 5.373 Euro, über die grundsätzlich frei verfügt werden kann, sofern die Ausgaben im ­Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit stehen.

Vor einem Monat wurde ein Spesen-Skandal um die ­39-jährige En-­marche-Abgeordnete ­Coralie Dubost publik. Der Vorwurf: Sie habe mit ihrer Spesen­pauschale mehr als 8.000 Euro für Unterwäsche ­aus­gegeben, was ihr als private ­Ausgabe ausgelegt wurde. Dubost reichte ­daraufhin ihren Rücktritt ein und kehrte der Politik den Rücken zu.

Immer wieder gab es zudem handfeste Finanzaffären wegen der Anstellung der parlamentarischen Assistent*innen, für deren Gehälter je­de*r Abgeordnete monatlich über 10.581 Euro bekommt. Der ehemalige Premierminister François Fillon wurde in exemplarischer Weise zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt, weil er als Abgeordneter viele Jahre seine eigene Gattin Penelope als angebliche Assistentin bezahlt hat, die dann nicht in der Lage war, vor Gericht Belege für eine reelle Arbeit zu liefern.

Die zukünftigen Mitglieder der Nationalversammlung, die wegen allfälliger Interessenkonflikte auch ihr Vermögen, ihre Beteiligungen und Investitionen offenlegen müssen, sind spätestens seit diesem „Penelope-Gate“ gewarnt: ihr Portefeuille wird unter die Lupe genommen.

Jede Sitzung beginnt und endet meistens in der „Buvette“ im Palais Bourbon. Dieses prächtige Bistro im Art-nouveau-Stil mit Gartenterrasse ist von den Medien und Be­su­che­r*in­nen abgeschirmt im neoklassischen Bau versteckt. In diesem Café nämlich herrscht eine ausgelassene Eintracht, wo linke und rechte Po­li­ti­ke­r*in­nen bei einem Glas Wein fraternisieren, als ob sie sich nicht Minuten zuvor noch im Ratssaal beschimpft hätten.

Niemand außer den 577 Abgeordneten hat hier Zutritt, selbst ihre As­sis­ten­t*in­nen werden höflich, aber bestimmt vom Chef de service als persona non grata abgewiesen. Denn hier wird französische Geschichte gemacht: 1950 gab in der Buvette der Ex-Priester und Widerstandskämpfer Félix Kir als Abgeordneter aus Dijon seinen Namen dem heute berühmten Cocktail aus Cassislikör und Weißwein. Wer wagt da noch zu behaupten, Frankreichs Abgeordnete seien bedeutungslos?

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1 Kommentar

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  • Schöner Kommentar, Herr Balmer,"Lachsalven, Zwischenrufe, Hühner­gackern – so geht es zu in der französischen National­versammlung". Diese Zustandsbeschreibung des franz. ist eine schöne Zusammenfassung der dortigen Arbeit. Wenn man sich tatsächlich mal eine Sitzung auf den genannten LCP gönnt, bin ich peinlich berührt.



    Sacharbeit sieht anders aus, wenn man zudem die Selbstbedienungsmentalität von sehr vielen Abgeordneten - im franz. Senat ist es noch schlimmer -anschaut,kann einem unwohl werden. Immerhin: Im der Namensgebung für den "Kir" hat das Parlament doch eine gewisse Aussenwirkung gehabt. In der derzeitigen Legislaturperiode war es eher angewandte Grüß-und Abnickkasperei.