Paris nach den Anschlägen: Reale und irreale Bedrohung
In Paris scheint das Leben wieder seinen normalen Lauf zu nehmen. Doch in der lukrativen Vorweihnachtszeit haben sich die Verkäufe verringert.
In den vergangenen Wochen war ich jedes Mal ratlos, wenn mich jemand fragte: „Wie ist Paris gerade?“ Nicht weil die Frage nicht berechtigt ist, sie ist es absolut, nur gibt es darauf keine eindeutige Antwort. Wie soll eine Stadt nach Anschlägen wie denen des 13. November sein? Es ist ein bisschen so, als würde man einen Überlebenden des Bataclan fragen: „Wie geht’s dir so?“ Er wird darauf keine Antwort finden. Er wird sagen „okay“ und dann merken, dass das gar nicht stimmt.
In den letzten Tagen hört man immer öfter von diesen Menschen, die dem Grauen entkommen sind und immer noch nicht ganz begreifen können, was dort eigentlich passiert ist. Selbst für jene, die tatsächlich Nase an Nase mit den Attentätern standen, bleibt das Geschehene surreal. Viele erzählen, sie hätten ihren Alltag danach relativ schnell wieder aufgenommen, sie hätten gedacht, sie könnten den Schock überwinden, doch nun, einen Monat später, drückt sich eine diffuse Angst durch den Schleier der Verdrängung.
Ich denke, Paris geht es ähnlich. In den ersten Tagen war es traurig und wütend und verängstigt und gelähmt. Die Straßen waren leer, die Cafés und Restaurants warteten vergeblich auf ihre Kundschaft. Vor meiner Haustür auf dem Boulevard Voltaire, schräg gegenüber vom Bataclan, war ein Blumenfeld gewachsen. Täglich kamen gefühlt Hunderte von Menschen, darunter auch viele Staatschefs, vorbei, brachten frische Blumen, zündeten Kerzen an, legten Briefe ab und starrten ungläubig auf diesen Friedhof, der sich hier mitten in unserem sonst so lebendigen Viertel ausgebreitet hatte.
Der Tod lang plötzlich in unserem Leben herum, und weil wir nicht wissen, was man mit ihm macht, weil wir ihm hier in Europa eigentlich nie auf der Straße begegnen, begannen wir nach ersten Wochen der Trauer und des Gedenkens ihm auszuweichen. Wir wollten ihn verdrängen. Meine achtzigjährige Nachbarin erzählte mir kürzlich, sie laufe nun einen ganz anderen Weg zum Markt, weil sie es nicht mehr ertrage, ständig in diese Gesichter der toten jungen Menschen zu blicken. Wie viele Anwohner anderer betroffener Orte wünschte sie sich, man räume die Blumen endlich weg.
Normales Leben?
Vor ein paar Tagen geschah dies nun. Der welkende Blumenkreis an der Kreuzung des Boulevard Voltaire/Richard Lenoir ist verschwunden, es bleibt nur noch der immer größer werdende Berg vor der Konzerthalle Bataclan und eine Blumenreihe vor dem kleinen Park gegenüber. Überhaupt scheint das Leben wieder seinen normalen Lauf genommen zu haben. Der junge Mann, der nach den Anschlägen wochenlang Tag und Nacht vor dem Restaurant „La Belle Equipe“ stand und dort im Gedenken an seinen getöteten Bruder Teelichter verteilte, ist verschwunden.
Plakate mit Sprüchen wie „Paris is still standing“ wurden mit anderen überklebt, etwa: „Wussten Sie, dass der gesamte Körper einer Frau eine erogene Zone ist?“ Junge Frauen unterhalten sich vor den Anschlagsorten über ihre letzte Pole-Dance-Stunde, das Bistrot „A La Bonne Biere“ hat vor zwei Wochen als erstes der betroffenen Etablissements wieder eröffnet. Das Leben geht weiter, was soll es auch sonst tun.
Und trotzdem fühlt es sich auch jetzt, fast sechs Wochen später, noch anders an als zuvor. Der Alltag wird von einem schwindenden, aber immer wieder aufsteigenden Gefühl der Angst begleitet. Ich selbst saß mehrmals im Restaurant oder auf einer Terrasse und wurde nach spätestens zwanzig Minuten von einer vollkommen irrationalen Panik heimgesucht: Weshalb fährt dieses Auto so langsam vorbei? Warum sind die Scheiben verdunkelt? Nach was kramt dieser Typ da in seiner Brusttasche?
Vor nicht weniger als einer Woche ergriff ich an der Place de la République die Flucht, weil zwei Männer, die grimmig dreinschauend herumstanden, sich plötzlich zwei Rucksäcke aufschnallten und losliefen. Absolut lächerlich, das ist mir klar, nur geht es nicht nur mir so.
Gewöhnung an die Gefahr
Die meisten meiner Freunde und Bekannten gestehen mit einem gewissen Fatalismus, seitdem einfach „immer und überall“ Angst zu haben. Man gewöhnt sich bekanntlich an alles und somit auch daran. Wir versuchen dem Nicht-Greifbaren dieses „Ereignisses“ eine gewisse Logik entgegenzusetzen: Restaurants, Terrassen, Cafés und Konzerthallen sind „safe“, ebenso wie das 10. und 11. Arrondissement – denn wer würde zweimal am gleichen Ort angreifen?
Kaufhäuser, in denen man derzeit seine Jacke öffnen muss, um zu beweisen, dass man keinen Sprengstoffgürtel trägt, scheinen wiederum vielen gefährlich, was dazu führt, dass Häuser wie die Galeries Lafayette in der sonst so lukrativen Vorweihnachtszeit einen Verkaufsrückgang von fast 50 Prozent melden. Das Metrofahren ist für die meisten schwierig. Die erste Metrofahrt ist eine beliebte Anekdote, doch auch hierfür finden sich Lösungen: Ein Freund erklärte seiner Mutter vor Kurzem, sie brauche sich nicht zu fürchten, sie solle einfach immer hinten oder vorne einsteigen, denn wer sich in die Luft sprengen wolle, der würde das in der Mitte tun.
Natürlich wissen wir, dass diese Sicherheitsmaßnahmen, die ja gar keine sind, uns vor nichts schützen. Und natürlich wissen wir auch, dass die Wahrscheinlichkeit, beim Überqueren der Straße überfahren zu werden, wesentlich höher ist als die, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen. Doch die Angst vor der unkalkulierbaren Gefahr kontrolliert man schlecht.
Vor zwei Wochen nun wurde diese durch eine viel realere Gefahr abgelöst und riss die Stadt gewisser Weise aus ihrem Ausnahmezustand: Als der Front National bei den Regionalwahlen im ersten Durchgang als klarer Sieger hervorging, war der Schock groß. Vor allem in diesem Viertel (das nur 7 Prozent FN gewählt hat), aber auch in jedem anderen halbwegs aufgeklärten Haushalt in Frankreich fühlte man sich doppelt bestraft, doppelt angegriffen.
Wir werden uns an die terroristische Gefahr gewöhnen
Wir alle wissen, dass wir uns an das Leben mit der terroristischen Gefahr gewöhnen müssen. Nicht nur in Paris. Wir wissen, dass es immer und überall passieren und jeden treffen kann. Damit finden wir uns langsam ab, weil wir wissen, dass noch so viele Grenzen und noch so viel Polizei und Überwachung nichts verhindern werden. Zumal der Hass hier im Inneren dieses Landes gewachsen ist.
Das Wissen, dass 7 Millionen Franzosen einer Partei folgen wollen, die öffentlich behauptet, Muslime seien Franzosen zweiter Klasse, die Abtreibung als eine unmoralische Sache, die nicht mehr unterstützt werden solle, bezeichnet und die in Europa den Tod Frankreichs sieht, ist unerträglich. Hier darf man ganz rational Angst haben, weil dies eine reale und nicht nur emotionale Veränderung unseres Lebens als französische Europäer bedeuten kann.
Meine Gemüsehändlerin auf der Rue Oberkampf meinte vor ein paar Tagen, die Franzosen, die Marion Maréchal und ihre Tante Marine („la grosse blonde“) wählen, sollten doch noch mal überlegen, ob sie nicht selber ihren französischen Pass abgeben wollen, denn offensichtlich haben sie vergessen, wofür das Land, das sie so unbedingt bewahren wollen, steht.
Nicht für eine in sich geschlossene Nation, sondern für Freiheit, Offenheit und Brüderlichkeit. Dass der Front National im Grunde mit den gleichen Ängsten wie der radikale Islamismus, der Angst vor der Freiheit, also der Unsicherheit, spielt, und die gleichen Feinde, die Eliten und die sogenannten Bobos, hat, das hört Marine nicht gerne.
Vive la France!
In dieser Woche ist ihr genau deshalb ein fataler Ausrutscher passiert. Im Interview mit dem Islamexperten Gilles Kepel fragte der Journalist Jean Jacques Bourdin nach der Korrelation zwischen Daech (dem arabischen Akronym für den IS) und dem FN, woraufhin Marine Le Pen eine sehr ungeschickte Twitter-Kampagne startete: Sie postete mehrere Bilder von IS-Hinrichtungen und schrieb darüber: „Das ist Daech!“
Für diese geschmacklose Aktion wird sie nun rechtlich verfolgt. Man kann nur hoffen, dass sie sich und ihrer Partei damit selbst ein Bein gestellt hat. Denn so sehr wir gewillt sind, mit der Gefahr des Terrorismus zu leben, so undenkbar ist das Leben in einem Land, in dem der Front National das Sagen hat.
Vergangenen Sonntag beendete Marine Le Pen ihre Rede zu ihrer „siegreichen Niederlage“ mit einem geschrienen „Vive la France!“. Ich würde das in diesen traurigen Tagen auch sagen, nur meine ich damit, wie zum Glück 60 Millionen andere Franzosen, etwas ganz anderes als sie.
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