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Parallelwelten Ein verwunschener Berliner Garten neben einer Trag-lufthalle für Flüchtlinge. Zwei Orte, aber verbindet sie etwas?Und dahinter: das große Weiß

von Renée Zucker

Es war noch im letzten Jahrhundert: Anderl Kammermeier stand auf den Spaten gestützt am Zaun seines Gartens. Der Zaun trennt die Kruppstraße 16 in Berlin von der großen Einfahrt, die zum Sportplatz führt. Das Nachbargebäude hinter der Einfahrt war ein historischer Backsteinbau, Kruppstraße 15, der berüchtigte Abschiebeknast. Heute eine Regis­trierungsstelle des nicht minder berüchtigten Landesamtes für Gesundheit und Soziales.

In der umgegrabenen Erde spielte Kammermeiers vierjährige Nichte. Plötzlich Geschrei. Ein Afrikaner hatte sich auf dem Weg vom Gefängnistransporter in den Abschiebeknast vom Bewacher losgerissen. Der große Mann trug einen ausgemusterten Polizeitrainingsanzug, dessen Hose ihm nicht nur zu kurz, sondern auch zu weit war, weil man, wie bei allen Gefangenen, die man in diese Trainingsanzüge steckte, das Gummi aus dem Bund entfernt hatte. Keiner in Abschiebegewahrsam sollte sich strangulieren können.

Trotz der schlotternden Hose sprintete der trainierte Mann direkt auf Anderls Garten zu. „Halten Sie den“, schrie der Justizbeamte, aber Anderl sorgte sich weniger um den Afrikaner ohne gültige Papiere als um seine Nichte. Er riss sie hoch, schaffte es noch zur Seite, als der Afrikaner, seine Hose festhaltend, einen vier Meter hohen Zaun mit Stacheldraht überwand, dabei sein Geld verlor, durch den Garten rannte, über den nächsten Zaun sprang – und dann, wieder auf der Straße, von einem heranrasenden Polizeiauto gestellt wurde.

Diese Szene werde er nie vergessen, sagt der, mit fast sechzig Jahren immer noch starke, bayerische Metallkünstler. Und seine Frau Brigitte Stockmann fügt an, wie oft damals Schreie aus dem Polizeigebäude zu hören waren und sie nicht wusste, an wen sie sich wenden sollte. „Wer hätte mir denn zugehört? Wen hätte es interessiert, wenn ich gesagt hätte, dort wird den Gefangenen Leid zugefügt?“

Alexander Kluge forschte einmal über synchronistische Besonderheiten von Orten und fand heraus, dass manche über Jahrhunderte hinweg mit den gleichen Themen, meistens sogar Traumata, zu tun haben. Rund um die Krupp- und Lehrter Straße in Berlin-Moabit scheint es eine geradezu historisch magische Anziehungskraft für Gerichte, vorübergehende oder fest installierte Gefängnisse, Kasernen, Sport- und Exerzierplätze zu geben. Nun auch für Traglufthallen, wo Flüchtlinge wohnen.

Glück? Unglück?

Sitzt man im verwunschenen Garten der Kruppstraße 16 bei Kammermeier, genießt das kreative Chaos aus Pflanzen, Steinen, Holz und Schwermetall; lauscht Amseln, Distelfinken und Nachtigallen, trinkt einen starken Kaffee und schnauselt selbst gebackenen Obstkuchen, dann fehlt nichts zum Glück.

Auch nicht zum Unglück, sobald man den Blick nur ein wenig in Richtung der provenzalisch anmutenden Mauer, die Kammermeier aus alten Feldsteinen baute, hebt. Zuerst kann man das große Weiß dahinter nicht deuten. Eine Wolke? Eine Kinoleinwand? Die Abhörzentrale vom Teufelsberg im Berliner Grunewald nach Moabit versetzt?

Wie ein riesiges Raumschiff leuchtet durch das Blattwerk von Pappeln und Sträuchern die silbrige Außenhaut des weißen aufgeblasenen Zeltmonsters, in dem seit Oktober 2014 zwischen 250 und 300 Asylbewerber aus Syrien, Irak, Afghanistan und Pakistan leben. Das vorsommerliche Kaffee-, Kunst- und Kuchenvergnügen gerät plötzlich in Schieflage. Eine Traglufthalle ist wesentlich billiger als eine Containersiedlung und ein schrecklicher Ort, wenn man kein Flugzeug ist oder Tennis spielen will. Besonders schrecklich ist sie, wenn man drin wohnen muss. Ursprünglich nur als Notunterkunft für ein paar Tage geplant, soll sie mittlerweile auf Dauer stehen bleiben.

Sie funktioniert durch Überdruck. Es darf keine Luft von innen entweichen, sonst fällt sie in sich zusammen. Man muss durch eine Schleuse, Tür auf, Tür zu, warten, nächste Tür auf, Tür zu. Und dann ist es hell und immer laut; man kann nicht rausgucken, und niemand kann wirklich allein sein. Es ist der neueste Hit im Geschäft mit Flüchtlingen. Neulich war sogar Susan Sarandon da. Gestern noch Cannes, heute Moabit. Sie brachte eine Tischtennisplatte mit und reckte zusammen mit ein paar Bewohnern für die Fotografen den Daumen nach oben. Nach einer Stunde musste sie wieder gehen. Die Zurückbleibenden waren beeindruckt.

Die meist jungen Männer hängen auf dem Sportplatz rum, rauchen, smartphonen, langweilen sich. Manche waren zuerst in einer Turnhalle untergebracht. Dort fanden sie es besser. Die Halle hatte Fenster. Und dann das Essen. Immer wieder das Essen. Ist es deutsch oder arabisch? Man kann nicht mal erkennen, was es überhaupt ist.

1988 hatte eine Künstlergruppe, zu der der gelernte Goldschmied und angewandte Künstler Kammermeier und die Schauspielerin und Theaterpädadogin Stockmann gehörten, den denkmalgeschützten Geschützschuppen der 6. Batterie auf einem verwahrlosten Grundstück für 1.700 DM gemietet. Kammermeier schmiedete Möbel aus Stahl, andere bauten Bühnenbilder oder spielten Schlagzeug in der zu Ateliers umfunktionierten Werkshalle. Die ehemalige Garage für Krupps Kanonen gehörte, wie so viele ungeklärte und ungenutzte Immobilien in Westberlin, dem Bundesvermögensamt für Sondervermögen.

Nach dem Mauerfall geriet die Kanonenhalle in die allgemeine Begehrlichkeiten-Gemengelage der Nachwendezeit. In Berlin war mittlerweile die letzte Plumpsklo-Ruine zur wertvollen Immobilie avanciert, um wie viel mehr ein Grundstück von 2.200 Quadratmetern in der neuen Mitte. Die Miete stieg. Nach und nach sprangen Künstler wegen Geldmangel ab – Ende der neunziger Jahre stand dann endgültig fest, dass die Kanonengarage von offizieller Seite nicht mehr gebraucht wurde und verkauft werden konnte. Heute teilen sich drei Parteien das Grundstück; zwei davon wohnen hier.

Wofür steht die Kruppstraße 16? Dass du mitten in der großen, kom­plizierten Stadt bist und sie vergessen kannst. Sofern du den passenden Pass hast

Anderl Kammermeier und Brigitte Stockmann benutzen den größten Hallenteil weiter zum Arbeiten und eröffneten 2004 ihren mit Schrottplatzfunden und Liebe gestalteten Garten für die Öffentlichkeit. Im Sommer gibt es dort mitunter Nachmittagsmusik und den vielgerühmten Obstkuchen.

Die Bewohner des Kiezes, auch Stockmann und Kammermeier, waren gegen die Traglufthalle. Nicht wegen der Flüchtlinge, aber der Sportplatz auf dem die Halle steht, ist der einzige, der noch vereinsfrei ist. Wo jeder rumbolzen kann. „Die Traglufthalle ist völliger Quatsch. Jeder, der jetzt hier untergebracht ist, könnte wesentlich besser untergebracht werden in leer stehenden Gebäuden. Aber da haben sie natürlich Angst, dass ihnen der Verkauf wertvoller Mitte-Immobilien erst mal versperrt ist. Flüchtlinge rein geht schnell, sie wieder rauszukriegen, dauert länger.“ Kammermeier zählt die freistehenden Gebäude in der Nähe auf, darunter das Frauengefängnis und das ehemalige Amtsgericht Tiergarten. In den Niederlanden hat man mehrere Haftanstalten umfunktioniert. Räume, die für ein bis zwei Personen genügend Platz bieten; es gibt Sportmöglichkeiten, Werkstätten, Duschen. Die Umbauarbeiten würden sich in Grenzen halten. Wie die Fotoreportage des AP-Fotografen Muhammed Muheisen zeigen, sind die neuen Bewohner der Gefängnisse nicht unzufrieden. Nur das Essen ist wieder ein Problem, dabei ist das bisschen Heimat im Essen doch so wichtig.

„Wo ist denn die Eventhalle?“, fragen manchmal Leute in der Einfahrt, die zuerst an Kammermeiers Garten vorbeikommen. Sie meinen die Traglufthalle. In der Wohnstatt der Flüchtlinge wird viel Entertainment geboten, auch ohne Susan Sarandon.

Zu den Veranstaltungen in den offenen Garten kommen die Flüchtlinge nicht. Nur einmal zeigten sie Interesse an einem Tanzabend. Er hieß „Zaungäste“, und es gab Fluchtszenen, die außerhalb des Gartens, auf der Treppe zum Sportplatz und in der Einfahrt spielten. Was da vor sich ging, verstanden die Bewohner der Unterkunft sofort.

Die Kruppstraße 16 setzt Zeichen: Du bist mitten in der großen, komplizierten Stadt und kannst sie vergessen. Sofern du den passenden Pass hast.

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