Papst Franziskus erhält Karlspreis: Der erhobene Zeigefinger ist überall
Für seine Verdienste um die europäische Einigung erhält der Papst den Aachener Karlspreis. Die halbe Stadt pilgert dafür nach Rom. Unser Autor ist mit dabei.
450 festlich gekleidete AachenerInnen recken in der Sala Regia des Apostolischen Palasts die Hälse zu ihm. Die Kameras von ZDF, WDR und BR recken ihre Objektive. Der Aachener Domchor singt „Gloriosa dicta sunt“ – Herrliches sagt man dir nach. Der Domchor ist der älteste deutsche Knabenchor, den Karl der Große himself einstens gegründet hat. Vorher waren die Kinder nicht aufgeregt, sagt Chorleiter Berthold Botzet, aber wehe, wenn man den Vatikan betritt: „Da hat man sofort das Gefühl, in einer Sekunde um 600 Jahre zurücktransportiert zu sein.“
1215 Jahre und ein paar Wimpernschläge ist es her, da war Aachens bis heute tief verehrter Kriegsherr Karl der Große Sachsenschlächter, an gleicher Stätte von Papst Leo III. zum Kaiser gekrönt worden. Um nunmehr höchst autorisiert Europa mit dem Schwert zu einen. Jetzt sind die Aachener wieder da und bringen dem Papst ein Geschenk, im Namen ihres größten Sohnes: den Karlspreis. Für die Einheit Europas. Den wichtigsten politischen Preis des Kontinents. An Franziskus, die „moralische Instanz“. Quasi als weltliche Gegenkrönung.
Eskortiert werden die Aachener von Kanzlerin Merkel, dem EU-Triumvirat Tusk, Juncker, Martin Schulz, dem spanischen König, dem italienischen Staatspräsidenten.
Eine politische Ohrfeige
Aber ein Argentinier für Europa? Franziskus mischt sich bekanntlich ein. Er sprach eindringlich vor dem EU-Parlament, war zuletzt auf Lesbos, um zu sehen, was Europas groteske Flüchtlingspolitik anrichtet. Der Preis an einen Südamerikaner gilt auch als politische Ohrfeige an einen Kontinent, dessen Repräsentanten derzeit in Reihe versagen. Und niemand preiswürdig wäre.
Der Pontifex möge Lösungen andenken, sagen sie alle, Europa wachrütteln, mahnen. Er solle, so der Karlspreisvorsitzende Jürgen Linden, „ins Gewissen reden“, man erwarte „einen Impuls, ein Signal aus Rom“. Franziskus sei schließlich „eine Autorität gegenüber der Politik“. Ob die das weiß – in Polen, Ungarn, Österreich? Und: braucht man die überhaupt?
Die Hector-Peterson-Schule in Berlin-Kreuzberg hatte einen fatalen Ruf. Sie wollte sich neu erfinden. Wir haben sie ein Jahr lang beobachtet. Ob es funktioniert hat, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 7./8. Mai. Außerdem: Die SPD steckt in der Abwärtsspirale. Drei Besuche bei Menschen, die erklären, warum sie die Partei der Zukunft ist. Und: Das sächsische Freital wurde bekannt für Angriffe auf Flüchtlinge. Jetzt ist dort die syrische Band Khebez Dawle aufgetreten – gegen Rechts. Eine Reportage. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Offenbar ja. Aachens Oberbürgermeister Marcel Philipp hält seine Laudatio. Er sei „in tiefer Sorge um den Zusammenhalt Europas. Wir empfinden Hilflosigkeit.“ Europa sei am Rand der Dekadenz, von Verfall bedroht: „Die Erosion des Fundaments ist beängstigend“. Franziskus hilft: Als Papst gucke man doch „ohne Wohlstandsschleier“. In den Festreden wird beschworen, gemahnt, von Visionen und Visionären gesprochen, von Moral, Solidarität, Würde, Respekt. Der erhobene Zeigefinger ist überall.
Martin Schulz sieht „Europas gemeinsame Wertebasis ins Wanken geraten“. Man stehe „vor einer epochalen Herausforderung.“ Jean-Claude Juncker sagt flehentlich: „Also, ihr alten Europäer, wacht auf! Hört die Stimme von Papst Franziskus!“ Vor dessen Rede hebt der Domchor an: „Jubilate Deo“. Mit „hingezaubertem, verzücktem Klang“, wie der Chorleiter verlangt hatte, „ganz, ganz fein mit meditativem Charakter“.
Alles dauert, dauert
Sonst winken Päpste bei weltlichen Ehrungen meist ab. Franziskus’ deutscher Berater in Rom, Kurienkardinal Walter Kasper, hatte dem Papst „das Anliegen dieser Auszeichnung erläutert“, sagt er. „Ich war der Briefträger.“ Später erklärte Franziskus sein Ja: „Das liegt an der Dickköpfigkeit von Kardinal Kasper.“ Eine der Organisatorinnen der Stadt Aachen stöhnte ein paar Tage vor dem Event: „Die machen mich wahnsinnig im Vatikan. Alles dauert, dauert. Die rechnen nicht in Tagen, die sind in Ewigkeiten unterwegs.“
Neben den 450 Ehrengästen bei der Preisverleihung haben sich auch Privatleute nach Rom aufgemacht. Nicht beim Festakt, aber nach Rom angereist sind beispielsweise zwölf Schüler einer Gymnasialklasse 10 und ihre Lehrerin. Gleich 60 Theologie-Studierende waren per 20-stündiger Busreise für vier Tage angereist. Da es die Chance gab, über die Warteliste in die Hauptveranstaltung zu rutschen, hatte man „vorher eine Liste ausgelost“, sagt der Religionspädagoge Guido Meyer. Deshalb musste auf Verdacht festliche Kleidung ins Gepäck. Fünf schafften es schließlich sogar. Habemus papam.
Der Dresscode schrieb für Herren einen festlichen dunklen Anzug vor und für die Damen: „Dunkler Hosenanzug ist möglich; wenn Kostüm oder Kleid getragen wird, dann sollte dieses beim Sitzen eine Handbreit über das Knie gehen. Bitte Schultern bedecken. Ein Hut oder Schleier ist nicht erforderlich.“ Das Protokoll verlangte ferner: „Nicht komplett in Weiß kleiden.“ Denn weiß ist nur der Heilige Vater.
Die Prozession der vielen Aachener wirkte wie die Reisen Tausender Fußballfans, die ohne Chance auf eine Eintrittskarte ihren Lieblingen bei einem wichtigen Endspiel nah sein wollen. Und das Spiel im Fernseher unbedingt zwei Kilometer vom Rasen entfernt sehen wollen statt 2.000. Gestern am frühen Morgen kamen manche zumindest in die Karlsmesse im Petersdom– um sozusagen das Vorspiel fürs große Finale live zu erleben.
Geistlicher Appell
Dann sprach Seine Heiligkeit. 31 Minuten lang – auf Italienisch. „… multilaterale … poco a poco …“ Es gibt im Saal keine Übersetzung. Im Fernsehen wissen alle simultan Bescheid, die Festgesellschaft ahnt nicht, ob Europa die richtigen Signale bekommt. „… generositá … Adenauer … generale …“ Die Unruhe im Saal wächst. Gleichzeitig nicken Dutzende ein. „… una cultura … grazie!“ Europa 2016: Man versteht sich nicht.
Der Papst stellte selbst Fragen: „Was ist mit dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit? Was ist mit dir los, Europa, du Heimat von Dichtern, Philosophen, Künstlern, Musikern, Literaten? Was ist mit dir los, Europa, du Mutter von Völkern und Nationen, Mutter großer Männer und Frauen, die die Würde ihrer Brüder und Schwestern zu verteidigen und dafür ihr Leben hinzugeben wussten?“ Und wie weiter? „Wenn es ein Wort gibt, das wir bis zur Erschöpfung wiederholen müssen, dann lautet es ‚Dialog‘.“ Martin Schulz sagte nachher, ihm habe gefallen, wie sehr der Papst den „gegenwärtigen Zynismus in Europa angegriffen“ habe. Angela Merkel fühlte „Ermutigung“.
Der Pontifex hatte angeregt, „Brücken zu bauen und Mauern einzureißen“. Eine genaue Exegese seiner fußnotengespickten Rede wird noch dauern. Aber was sollte der Vatikan konkret tun? Mit der Schweizergarde den mazedonischen Grenzzaun einreißen? Alle Polen kollektiv exkommunizieren? Glorios adicta sunt – gerade dem Papst sagt man Herrliches nach.
Etwa 40 ausgewählte Gäste durften nach der Verleihung die päpstliche Hand schütteln. Alle offenkundig ergriffen. Wie war es? Berührend, einmalig, sagten sie nachher. „Wenn man den Papst berührt“, so Chorleiter Botzet, „ist man schon beseelt.“
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