Pandemischer Kulturpessimismus: „Systemische Therapie“ ist in Mode
Soll sie wie der neoliberale Weltgeist in allen Schwierigkeiten dornige Chancen sehen? Christiane Rösinger findet nichts Positives in dieser Zeit.
M usikerinnen und andere Leute, die früher mal in der Unterhaltungsbranche arbeiteten, haben ja seit fast einem Jahr viel Freizeit. Da freut sich die Musikerin – es gibt ja sonst so wenig Abwechslung im Leben –, wenn sie ab und zu fürs Radio, für Artikel, Studien und Kunstprojekte befragt wird, wie die Situation denn so sei, finanziell und seelisch.
Wenn sie dann aber nüchtern darlegt, wie es so ist: Finanziell noch Glück gehabt, aber anderen Soloselbstständigen geht es schlecht, und arg langweilig ist das Leben und keine Perspektive auf Besserung in Sicht und so weiter, dann herrscht unbehagliches Schweigen am anderen Ende, welches in die Frage mündet:„Ja, aber gibt es nicht auch etwas Positives, das durch diese Situation mit Corona entstanden ist?“
Und auch wenn die Musikerin an dem einen Ende spürt, was der am anderen Ende hören will, nämlich: „Ja! Ein ungeahnter Kreativitätsschub, diese wunderbare Entschleunigung, endlich Zeit, mich meinen vielen Interessen zu widmen“, sagt sie: „Nein, es gibt nichts Positives“, und so endet das Gespräch mit einem kleinen Missklang.
Und sie fragt sich: „Warum soll man neuerdings in allem Übel noch etwas Positives sehen? Ist unsere durchtherapierte Gesellschaft darauf getrimmt, dass jeder weiterfunktioniert, und sollen wir jetzt wie der neoliberale Weltgeist in allen Schwierigkeiten dornige Chancen sehen?
Aber repräsentative Umfragen ergeben, dass kein Mensch jemals in einer Therapiesitzung dazu aufgefordert wurde, die Dinge doch mal positiv zu sehen. Allerdings, erzählen Insiderinnen, sei die „Systemische Therapie“ gerade in Mode. Diese setzt unter anderem auf das positive Konnotieren und Herausarbeiten der positiven Aspekte von problematischen Sachverhalten und sucht lösungsfokussierte Ansätze.
Vielleicht sollte die Musikerin mithilfe der systemischen Therapie die Dinge positiver sehen? Gesagt, getan: Fallbeispiel 1: Die Konzerte von April 2020 wurden auf Juni, dann auf Herbst 2020, dann in weiser Voraussicht auf Herbst 2021 verschoben. Inzwischen weiß man, dass von einem normalen Konzertbetrieb dieses Jahr nicht mehr auszugehen ist. Hier könnte, laut Lehrbuch, folgender Ansatz helfen: „Situation-utilisierendes Reframing: Alles ist zu etwas nütze! Das Problem als Herausforderung zu verstehen lernen, um das bisherige Lebenskonzept zu erweitern und persönlich zu wachsen.“
Okay! Die Musikerin freut sich, dass ihre immer neuen Pläne, die immer wieder durchkreuzt werden zu größerer menschlicher Reife und Demut führen.
Fallbeispiel 2: Es ist absolut nichts los, man sitzt den ganzen Tag allein zu Hause, kann sich nur zum Spazierengehen treffen und danach noch nicht mal durchgefroren ins Café gehen. Das Lehrbuch rät zum „Motivation-diversifizierenden Reframing: Alles ist Ansichtssache!“
Genau! Dieses Lebensgefühl der tödlichen Langeweile kann uns total verjüngen! Wer zum Beispiel in den siebziger Jahren in einem Dorf aufgewachsen ist und aus Verzweiflung an der Bushaltestelle rumlungerte, von der einmal täglich ein Bus in die nächste Kleinstadt fuhr, in der auch nichts los war – der fühlt sich jetzt an diese lähmende Jugendzeit erinnert. Damals gab es kein Internet und nur drei Fernsehprogramme!
Hier hilft „Verhalten-diversifizierendes Reframing: Viele Wege führen nach Rom.“ Wie rundum positiv, dass es heutzutage Netflix gibt! Und wenn auch schon alle Adelshaus-, Weltraum-, Serienmörder-, Polit-, Wikinger-, Highland- und Fußball-Serien durch sind, dann kann die Musikerin an sich arbeiten und endlich den Abscheu und Ekel gegen Liebes-, High-School-, Pärchen-Dramen und romantische Komödien überwinden.
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