Paläontologin Madeleine Böhme: „Ich tue das, was ich tun muss“

Madelaine Böhmes Ausgrabungen führten zu den Knochen des ältesten aufrecht gehenden Menschen­affen. Ein Besuch in Tübingen.

Madelaine Böhme mit einem Knochen in der Hand

Madelaine Böhme mit den Knochen der bisher unbekannten Primatenart Danuvius guggenmosi Foto: Sebastian Gollnow/dpa

TÜBINGEN taz | Im August 1987 fährt eine 20-jährige Frau aus ihrer Geburtsstadt Plowdiw, Bulgarien, aufs Land. „Ich gehe einen Elefanten ausgraben“, hatte sie zum Abschied gesagt. „In Bulgarien gibt es keine Elefanten“, hatte ihre Großmutter geantwortet. Gab es aber. Über vier Millionen Jahre ist es her, dass hier der Anancus graste. Und Madelaine Böhme weiß das, sie hat es in der Zeitung gelesen.

„Die Fläche war vielleicht so groß wie der Tisch“, sagt Böhme und meint den Tisch ihres Büros in der Paläontologischen Sammlung in Tübingen. Sie ist die Leiterin dort. Elf Stoßzähne habe sie auf den 1,4 Quadratmetern gefunden. Sie legt die Spitze eines Stoßzahns auf den Tisch. Einen Unterkiefer konnte sie in Gänze bergen. „Der war ganz schön schwer zu tragen“, sagt sie und lacht. „Bestimmt 25 Kilo.“

Als die Tochter eines ostdeutschen Lehrers zum Studieren nach Jena zieht, bleibt der Millionen Jahre alte Unterkiefer in der Garage zurück. Und wird bald entsorgt. Die Zähne sind ihr aus Bulgarien geblieben, außerdem menschliche Überreste aus der Bronzezeit, römisches Glas, ein Fingerhut. Das sind Stücke, die sie, zwölf Jahre alt, bei der ersten eigenen Grabung barg. „Im Grunde“, sagt sie heute, „war das Raubgräberei.“

Auch wenn Madelaine Böhmes Biografie sicher nicht linear verlaufen ist, stimmt es doch, dass aus der zwölfjährigen „Raubgräberin“ genau das geworden ist, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte: eine Paläontologin. Über Böhmes Entdeckung des Danuvius guggenmosi in der Tongrube Hammerschmiede bei Pforzen ist viel geschrieben worden: Die bis heute 36 Knochen von vier fossilen Menschenaffen beweisen, dass diese bislang unbekannte Art auf zwei Beinen ging. Sie sind 11,6 Millionen Jahre alt (die genauen Umstände der Entdeckung beschreibt sie im soeben erschienenen Sachbuch „Wie wir Menschen wurden“).

Bislang war man davon ausgegangen, dass sich die Gattung der aufrecht gehenden Homini vor fünf bis sieben Millionen Jahren entwickelte. „Udo“ aus dem Allgäu bedeutet einen Paradigmenwechsel in der Wissenschaft und das Ende der „Out-of-Africa-Theorie“. Udo heißt er, weil Böhme und ihr Team Teile seines rechten Unterkiefers am 17. Mai 2016 fanden, dem 70. Geburtstag von Udo Lindenberg.

Mit Spachtel und Pinsel

Wer diese Frau ist, die die Ausgrabungen leitete und sich selbst mit Spitzhacke und Spachtel, Pinsel und Nadel durch den Ton gegraben hat, wollen momentan alle wissen. Die Medienvertreter geben sich in Tübingen die Klinke in die Hand. Zwischendurch ruft die Redaktion von Markus Lanz an. Das Fernsehen hat eine Dokumentation über sie gedreht, mit deren Darstellung sie schon vor Ausstrahlung energisch hadert: „Die schneiden alle Szenen raus, in denen ich rauche. Ich bin ohne Zigarette aber nicht vorstellbar“, klagt Böhme und stellt neben den Stoßzahn einen Aschenbecher auf den Tisch.

Möglich geworden sei die Entdeckung von Udo durch zwei Dinge: extremen Einsatz und Verbissenheit. Und es scheint fast, als gipfelte in diesem Moment eine Biografie, die schon vorher von einer gewissen Kompromisslosigkeit geprägt war. Wenn man sich mit Madelaine Böhme über ihren Werdegang unterhält, versteht man schnell, dass es kein Zufall ist, dass da ihr Name über einer Veröffentlichung steht, die das bislang gültige Modell der menschlichen Evolution revolutioniert.

Das Bild ist das eines auf Bäumen aufrecht gehenden Menschenaffen, einen Meter groß

Im November 1990 steht sie am Hauptbahnhof in Dresden. Madelaine Böhme steigt in einen heillos überfüllten Sonderzug nach München. „Das war gefährlich“, erinnert sie sich an die Menschenmassen: „Wie die Ölsardinen.“ Sogar auf den Toiletten seien Passagiere mitgefahren – durch die Nacht, um bei Sonnenaufgang in Bayern anzukommen. Die Stadt München lockte DDR-Bür­ge­r*in­nen mit zusätzlichen 90 D-Mark Begrüßungsgeld.

Um die zu bekommen, muss man sich in eine lange Schlange vor dem Kreisverwaltungsreferat einreihen. Es herrschen chaotische Zustände. Böhme hat Besseres zu tun. Sie lässt ihren mitreisenden Kommilitonen stehen und macht sich auf die Suche nach der Universität, entdeckt dort einen Aushang für einen paläontologischen Ferienkurs und spaziert direkt ins Büro von Professor Kurt Heißig: „Guten Tag, mein Name ist Böhme, ich komme aus der DDR. Kann ich an ihrem Kurs teilnehmen, und was kostet das?“ Sie kann, es kostet nichts. Drei Monate später macht sie sich erneut auf den Weg nach München, diesmal im Trabbi, im Kofferraum sechs Kanister Zweitakterbenzin: „Eine tickende Zeitbombe. Wenn uns da jemand hinten draufgefahren wäre …“

Udos Wirbel

Böhme, rote Kurzhaarfrisur, Lachfältchen um die Augen, spricht schnell und angeregt, springt dabei von der Paläontologie zur Politik, zur Philosophie, flicht elegant Zitate aus dem „Faust“ ein und steht immer wieder mal auf, um neues Anschauungsmaterial aus den Schubladen ihres engen Büros zu ziehen: zwei Gebilde wie aus den Fugen geratene frittierte Zwiebelringe – Udos Wirbel, gefunden erst im März dieses Jahres, lieferten unter anderem Aufschluss über die S-Förmigkeit der Wirbelsäule. „Das war noch mal der letzte Hammer“, sagt Böhme. „Da wurde das Bild rund.“

Das Bild ist das eines auf Bäumen aufrecht gehenden Menschenaffen, etwa einen Meter groß. Das Männchen, Udo, wog 31 Kilo, die beiden Weibchen 17 und 19. Udo lebte im Haremsverband, aß nicht nur Blätter, sondern auch Wurzeln, konnte wegen des Greifzehs nicht rennen, aber aufrecht über die Äste spazieren.

Ihre Arbeit in der Tongrube Hammerschmiede begann 2010. Bei der geologischen Arbeit an Altersdatierungen von Gesteinsschichten tauchten die ersten Fossilien auf. Heute gebe es 15.000 Funde aus dem Gelände. Seit 2015 organisiert Böhme die Grabung als Bürgergrabung, an der prinzipiell jede*r teilnehmen kann. Rund 50 Menschen zwischen acht und 80 Jahren gehören der Gruppe an. Viele spektakuläre Funde seien von Laien gemacht worden. Bislang gruben sie im Wettlauf mit der Firma, die hier Ton abbaut. Teilweise sei es nur noch darum gegangen, möglichst große Erdmassen zu retten. „Vom Udo“, sagt Böhme, „haben wir 15 Prozent. 85 Prozent sind in den Ziegeln.“

Es sei sehr problematisch gewesen, vor der Veröffentlichung in Nature nicht über Udo sprechen zu dürfen. „Ich habe den Behörden immer wieder gesagt, hier kommt etwas, ich darf euch nicht sagen, was, aber vertraut mir.“ Erst jetzt, da die Entdeckung um die Welt gegangen ist, stellt die Untere Naturschutzbehörde das Gebiet unter Schutz. Der Wettlauf ist vorbei. Im Frühjahr wird sich auch die Grabungsleiterin selbst wieder durch den Ton wühlen, sie erwartet weitere Teile des Jungtiers.

Gesucht wird: Der Platz ein Stammbaum

Mit jedem weiteren Teil soll das Bild deutlicher werden. Wann wurde Danuvius guggenmosi geschlechtsreif? Wie lange hat die Art ihre Jungen gesäugt? Böhme ist sicher, dass solche Fragen beantwortet werden, und auch, weitere Individuen bergen zu können. Die entscheidende Frage aber bleibt offen: „Über seine Position im Stammbaum werden die Wissenschaftler noch Jahrzehnte streiten.“

Wer war Udo, insbesondere für uns? Tatsächlich ein Vormensch? Oder ein gemeinsamer Vorfahr mit dem Schimpansen? Damit wäre auch die Vorstellung einer menschlichen Evolution des fortschreitenden Aufrichtens dahin. Und: Dem Menschen würde mit dem aufrechten Gang das letzte Kriterium genommen, einen Menschen überhaupt zu erkennen.

Für die Paläontologie bedeute Udo daher in gewisser Weise eine Krise, sagt Madelaine Böhme, der das zu gefallen scheint. Die vornehmste Aufgabe der Wissenschaft sei es schließlich nicht, Antworten zu finden, sondern Fragen zu stellen. Wenn sie selbst dann im Mai wieder im Ton steht und gräbt, ist letztlich das ihre Suche: die nach neuen Rätseln. „Ich bin dort, im Ton, am liebsten“, sagt sie. „Ich bin keine Wissenschaftsmanagerin, ich bin Wissenschaftlerin. Ich muss auch keine Interviews geben oder zu Markus Lanz. Ich mache das gerne. Aber ich bin auch egoistisch. Ich tue das, was ich tun muss. Ich will nur forschen.“

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