Pädophilie-Affäre und die Grünen: Die fatale Schweigespirale
Unter dem Deckmantel der sexuellen Befreiung wurden bei den Grünen pädosexuelle Inhalte transportiert. Heute will sich kaum jemand äußern.
Die Grünen halten lieber den Mund, murmeln höchstens von einem besonderen Zeitgeist, raunen von Verirrten und Sektierern, die man längst hinter sich gelassen habe. Nein, mit dem Thema Pädophilie lässt sich für Grüne nicht gut wahlkämpfen. So ist das. Und doch konsterniert die Sprachlosigkeit der grünen Führungsriege. Sie legt einen gravierenden Verlust des zuvor so strotzenden Selbstbewusstseins offen – gerade in der moralischen Hybris, die Partei der Guten zu sein.
Der Versuch zu erklären, zu erläutern, auch zu historisieren, wird gar nicht erst unternommen. Geeignete Zeitzeugen dafür hätte die Partei reichlich. Stattdessen hat sich bei den Grünen ein Gemisch aus Ratlosigkeit, Lähmung, ja: Furcht vor der Debatte breitgemacht.
Damit stehen die Grünen keinesfalls allein da. Auch früher politisch aktive Bürgerrechtsliberale hüllen sich über diesen Abschnitt ihrer eigenen Biografie vorsichtshalber in Schweigen. Immerhin war es die damalige Jugendorganisation der Regierungspartei FDP, die im März 1980 auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz per Beschluss forderte: „Keine Bestrafung der freiwilligen und einvernehmlichen Sexualität. Die §§ 173 (Inzest), 174 (Sexualität mit Schutzbefohlenen), 175 (Besonderes Schutzalter für männliche Homosexuelle), 176 (Sexualität mit Kindern) sind zu streichen.“
Zwei Jahre danach bekräftigten die Jungdemokraten, sich „für die Emanzipation unterdrückter gesellschaftlicher Gruppen“ einsetzen zu wollen. Das bedeutete auch, „die Abschaffung des Sexualstrafrechts“ zu fordern.
Honorige Mitglieder der Gesellschaft
Franz Walter, Jahrgang 1956, Parteienforscher und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen. Er erforscht im Auftrag der Grünen seit mehreren Monaten den Einfluss pädophiler Gruppierungen auf die Partei. Das mit mehr als 200.000 Euro ausgestattete Forschungsprojekt soll noch bis Ende 2014 laufen.
Stephan Klecha, 35 Jahre alt, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demokratieforschung der Universität Göttingen. Er hat sich zuletzt in mehreren Publikationen mit der Piratenpartei befasst. 2013 erschien seine Studie: „Zwischen digitalem Aufbruch und analogem Absturz. Die Piratenpartei“.
Seither sind gut 30 Jahre vergangen. Das Gros der damaligen jungdemokratischen Delegierten gehört 2013 beruflich und gesellschaftlich zum mittleren Establishment der Republik. Sie arbeiten als Staatsanwälte, stehen Anwaltskanzleien vor, leiten Bankgeschäfte oder lehren als Professoren. Nur wenige sind noch in der Politik aktiv, einer – Christoph Strässer – sitzt heute für die SPD im Deutschen Bundestag.
Sie alle dürften die Debatte über pädophile Umtriebe bei den Grünen in den frühen 1980er Jahren während der letzten Monate verfolgt haben. Aber niemand – soweit wir sehen – äußert sich dazu, keiner versucht, die eigene politische Haltung der damaligen Zeit öffentlich nachvollziehbar zu machen. Niemand liefert Deutungen dafür, was seinerzeit warum für richtig gehalten wurde, heute aufgrund neuer Erfahrungen möglicherweise anders beurteilt werden sollte.
Dabei konnte es ja gute Gründe für derlei Willensäußerungen in der ersten Hälfte der 1980er Jahre gegeben haben, die in den aktuellen aufgeregten Verdikten bei diesem Thema zu Unrecht unter den Tisch gefallen sein mögen. Schließlich befand sich eine stattliche Zahl, wenn nicht gar die Mehrheit der Sexualwissenschaftler auf Seiten der Strafrechtsreformer, ebenso die Kriminologen, Vertreter der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Pädagogik. Doch auch in diesem Spektrum schweigt man, statt sich zu erläutern.
Die linksliberalen Wochenzeitungen der 1970er Jahre, nicht zuletzt die Zeit, gaben den Protagonisten einer Entkriminalisierung von vermeintlich einvernehmlicher Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern großzügig Raum. Das galt ebenso für Foren der evangelischen Kirche, für Veranstaltungen und Publikationen der Humanistischen Union und einiger sozialpädagogischer Verbände. Publikumsverlage veröffentlichten einschlägige Bücher in hoher Auflage mit opulenten Renditen.
Jetzt schreien alle im Rückblick auf die Nachsichtigkeiten gegenüber Pädophilie in jenem Jahrzehnt „Skandal“; alle rufen nach „Aufarbeitung“, alle legen sich für eine „Wiedergutmachung für die Opfer“ ins Zeug – nur ist damit nie der eigene Verein, die eigene Partei, das eigene Medienhaus gemeint.
Göttingen und Hannover
Jürgen Trittin hat vor Kurzem darauf verwiesen, dass es „absurde und irrige Vorstellungen“ gewesen seien, die sich in einige Bundes- und Landesprogramme der Grünen hineingeschlängelt hätten. Aber es gab sie, nicht zu knapp, und sie vagabundierten kräftig durch die linksalternativen Milieus, schlugen sich auch in Kommunalwahlprogrammen von Grünen-Wählergemeinschaften nieder, etwa in Göttingen und Hannover im Jahr 1981.
In Göttingen übrigens verantwortete der heutige Spitzenkandidat der Grünen für die Bundestagswahlen, Jürgen Trittin, damals noch Student und einer der Göttinger Stadtratskandidaten, presserechtlich dieses Wahlprogramm der Alternativen-Grünen-Initiativen-Liste (AGIL). Er ist als eines von fünf Mitgliedern der Schlussredaktion aufgeführt, nur hinter Trittins Namen steht in Klammern V.i.S.d.P. – die Abkürzung für „Verantwortlich im Sinne des Presserechts“. Der Programmabschnitt „Schwule und Lesben“ ist unterzeichnet mit „Homosexuelle Aktion Göttingen“.
Die AGIL in Göttingen hatte damit also einfach den Forderungskatalog dieser Gruppierung übernommen – dieses Procedere ist nicht ungewöhnlich für die Grünen in dieser Zeit, die sich damals als Sammlungskraft für sehr unterschiedliche Bewegungen verstanden. Dazu gehörte es auch, verschiedensten Gruppierungen als Plattform zu dienen und ihnen Raum zu geben.
Die Göttinger AGIL plädierte 1981 im Programmabschnitt „Schwule und Lesben“ ganz auf der Linie des Grünen-Grundsatzprogramms auf Bundesebene für eine strafrechtliche Freistellung von sexuellen Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen, die nicht unter Anwendung und Androhung von Gewalt zustande kamen.
Die Debatte fängt erst an
Die kollektive Amnesie im Alternativmilieu zeigt: Die Debatte über die damals strittigen Strafrechtsparagrafen und die Politik pädophiler Gruppen fängt erst an. Und ob man will oder nicht, man hat einige der Erörterungen jener Jahre, die den meisten von uns heute nachgerade absurd erscheinen, erst einmal wieder zu rekonstruieren und aus dem kulturell-historischen Kontext, vor allem aber auch aus der rechtswissenschaftlichen Diskussion der 1960er und 1970er Jahre zu begreifen.
Nicht alle, die seinerzeit das Strafrecht in den Paragrafen 174 und 176 ändern wollten, waren triebhafte Propheten einer exzessiven Libertinage. Nicht jeder war ein kaltblütiger Päderast, der 1980 in den ansonsten geltenden strafrechtlichen Bestimmungen hinreichend Schutz für Kinder gegen gewalttätige Zugriffe sah.
Nicht alle waren Wirrköpfe, die Schlussfolgerungen solcher Art aus Untersuchungen von Wissenschaftlern zogen, welche gar von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurden – wie etwa Rüdiger Lautmanns „Die Lust am Kind“. Denn diese Studien wiesen unzweifelhaft neue Erkenntnisse und tragfähige Empfehlungen aus – allerdings ebenfalls haarsträubende Einseitigkeiten und Fehlurteile.
Viele Autoren schauten mit bemerkenswerter Empathie überwiegend auf die Täter und ihre Lebensgeschichte und inneren Nöte, ließen demgegenüber in verblüffendem Maße vergleichbare Aufmerksamkeit, gar Sensibilität für die Opfer vermissen. Andere legten weniger Augenmerk auf den primären Missbrauch als auf die sekundären Traumata der Opfer, die sich als Folge des Strafverfahrens ergaben.
Gegen Repression und Ausgrenzung
Allein, ein gewichtiger Teil der Grünen sog in den frühen 1980er Jahre begierig all jene Positionen auf, die eine Fundamentalliberalisierung versprachen, da der Kampf gegen „Repression, Kriminalisierung, Ausgrenzung“ gleichermaßen als Kernelement der eigenen Parteibildung galt. Die Schattenseiten einer Deregulierung des Sexualstrafrechts blieben infolgedessen ausgeblendet.
Bei den Grünen, wie bei vielen Bürgerrechtsliberalen, sah man so anfangs über die strukturellen Macht- und Durchsetzungsdifferenzen zwischen Erwachsenen und Kindern hinweg. Man setzte sich nicht damit auseinander, wie subtil der Wille von Kindern jenseits der Anwendung von Gewalt gebrochen werden konnte und welche traumatischen Auswirkungen das auf die weitere Biografie haben musste.
Dergleichen warnende Hinweise gab es, bereits damals, durchaus von kundigen Zeitgenossen, aber sie wurden in der Gründungszeit der grünen Partei ignoriert.
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