: Out of Area ist uns verboten
Arbeit für den Generalbundesanwalt: Die deutsche Beteiligung an der Bombardierung Jugoslawiens war verfassungswidrig. Das Grundgesetz verbietet Angriffskriege generell
Bei der Integration der Linken in die Gesellschaft der Bundesrepublik spielte die Verfassung eine große Rolle. Sie wurde zum Sammelpunkt der Intellektuellen, die sich Verfassungspatrioten nennen und auf die „Rule of Law“ schwören. Da ist es erstaunlich, wie wenig Beachtung heute dereklatante Verstoß gegen eine Verfassungsnorm findet – gegen Artikel 26 des Grundgesetzes (GG), in dem es heißt: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“
Das Strafgesetzbuch, das dieser Aufforderung gefolgt ist, sieht für den so genannten Friedensverrat lebenslängliche Freiheitsstrafe vor. Es hat folgenden Wortlaut: „Wer einen Angriffskrieg vorbereitet (Art. 26 Abs.1 GG), an dem die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sein soll, und dadurch die Gefahr eines Krieges für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführt, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft.“ Bei aller Liebe zu Recht und Verfassung besteht offenbar aber kein Interesse an der Einhaltung dieser Normen. Dabei ist vor zwei Jahren genau der Fall eingetreten, den sie verhindern sollen: Die Bundesrepublik beteiligte sich nicht nur an der Vorbereitung, sondern sogar an der Durchführung eines Angriffskrieges.
Dass das Bombardement Belgrads ein Angriffskrieg war, bestreitet nicht einmal der Generalbundesanwalt, der auf vierhundert Strafanzeigen reagieren musste. Doch statt gegen die Bundesregierung Anklage zu erheben, hat er sich auf den Standpunkt gestellt, dass zwar ein Angriffskrieg vorliege, aber wegen des im Strafgesetzbuch in Klammern gesetzten Hinweises auf das Grundgesetz dessen Wortlaut hinzugezogen werden müsse. Dieser aber verbiete nur Angriffskriege, die mit der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören.
Mit wörtlichen Zitaten aus den Reden der angezeigten Politiker belegte der Generalbundesanwalt, dass sie diese Absicht nicht hatten. Sie wollten im Gegenteil Frieden herstellen. Glauben wir ihnen das und fragen uns, ob ihnen die gute Absicht hilft – ob das Gesetz tatsächlich die wohl wollende Kriegsvorbereitung außen vor lässt. Die juristische Forschung hat zu dieser Frage in vielen Jahren Stellung bezogen – und ist einhellig zu einer Auffassung gekommen, die für den Generalbundesanwalt und seine Schützlinge ungünstig ist.
In der juristischen Literatur gibt es vier Auslegungsmethoden, die heranzuziehen sind, wenn eine Vorschrift nicht eindeutig ist: die grammatische, die sich an die Sprache hält; die systematische, die die Position der Vorschrift im System der Gesetze berücksichtigt; die finale, die nach dem Sinn und Zweck einer Vorschrift fragt; und die historische, die sich mit den Motiven befasst, die den Gesetzgeber einstmals zu ihrem Erlass bewegt haben. Alle Methoden führen zu demselben Ergebnis: Auf die gute oder böse Absicht kommt es bei der Kriegsvorbereitung nicht an. Der Angriffskrieg schlechthin ist verboten.
Der Generalbundesanwalt hat nur die erste der vier Methoden angewendet, weil sie wegen der sprachlichen Unübersichtlichkeit der Vorschriften für eine Entlastung der Bundesregierung am günstigsten zu sein schien. Aber auch dabei findet er nicht die Unterstützung der Rechtslehre. Denn die grammatische Frage wird in dem gebräuchlichsten Kommentar zum Grundgesetz so beantwortet, dass der Krieg nach gewöhnlichem Sprachgebrauch in jedem Fall das friedliche Zusammenleben der Völker störe; nach der sprachlichen Fassung des Gesetzes sei der Krieg nicht irgendein Beispiel der Störung dieses Zusammenlebens, sondern sein Hauptbeispiel.
Die zweite, auf die gesetzliche Systematik ausgerichtete Auslegungsmethode führt zu dem Ergebnis: „Angesichts der Stellung des Hinweises auf Art. 26 GG im Gesetzestext wird man das Absichtserfordernis kaum in Paragraf 80 Strafgesetzbuch (StGB) hineininterpretieren können. Mit der Forderung nach einem Angriffskrieg hegt der Täter die Absicht der Friedensstörung ohne weiteres.“
Zieht man die dritte Methode, die den Sinn und Zweck einer Vorschrift sucht, heran, so wird er in der Einhaltung der Regeln der internationalen Friedensordnung gefunden: „Handelt ein Staatsorgan bewusst gegen diese Regeln, so liegt Absicht vor, wenngleich vom Standpunkt der Bundesrepublik eine ‚friedliche‘ Aktion bezweckt sein mag. Es braucht keine böswillige, friedensfeindliche Tendenz vorzuliegen, um die Rechtsfolge des Art. 26 Abs.1 auszulösen.“
Besonders aufschlussreich ist die Anwendung der vierten, historischen Auslegungsmethode. Sie ergibt Folgendes: Artikel 26 wurde auf Anregung der Kriegsächtungsbewegung, die sich in der Deutschen Friedensgemeinschaft zusammengefasst hatte, eingeführt. Der Vorschlag knüpfte an das Statut des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg an, in dem als Verbrechen gegen den Frieden bezeichnet wurde: Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Durchführung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung internationaler Verträge. Die friedensstörende Absicht war in diesem Statut nicht die Voraussetzung dafür, dass die angeklagten Nazis bestraft werden konnten. Krieg wurde als Friedensstörung per se angesehen.
Diese Herkunft wirft ein besonderes Licht auf die in Frage stehenden Vorschriften. Denn das Nürnberger Statut wurde und wird als Naturrecht angesehen, als Teil eines ewigen, ungeschriebenen Rechts. Nur so konnte es Rückwirkung beanspruchen. Das wird durch die Auffassung des Generalbundesanwalts in Frage gestellt.
Zwanzig Jahre lang hat die in Artikel 26 ausgesprochene Aufforderung, den Friedensverrat unter Strafe zu stellen, still im Grundgesetz geschlummert. Sie ist buchstäblich vergessen worden und kam erst 1968 wieder in Erinnerung. Auch in dem damaligen Entwurf ist an keiner Stelle von einer friedensstörenden Absicht die Rede. Nur der in Paragraf 80 des Strafgesetzbuches in Klammern aufgenommene Hinweis auf Artikel 26 hat zu der sprachlichen Verunsicherung geführt, die sich der Generalbundesanwalt zur Schonung der neuen Militärpolitik zunutze macht. Dieser Hinweis hatte aber nur den Zweck, an den grundgesetzlichen Hintergrund der Vorschrift zu erinnern.
Die Rechtslage könnte gar nicht eindeutiger sein. Der Generalbundesanwalt muss Anklage erheben. Die Staatsanwaltschaft, deren Spitze er ist, kann nämlich bei der Frage, ob sie einen Fall der Justiz vorlegt, kein Ermessen ausüben. Da sie das Anklagemonopol hat, steht sie auch unter Anklagezwang. Man nennt dieses Prinzip „Legalitätsprinzip“. Wenn sie eine originelle, der herrschenden Meinung widersprechende Rechtsauffassung vertritt, muss sie die Entscheidung einem Gericht vorlegen. In einem heiklen politischen Fall kann nichts anderes gelten. Im Gegenteil: Das Legalitätsprinzip ist gerade für so heikle politische Fälle wie den vorliegenden geschaffen. Die Strafverfolgung soll nicht der politischen Opportunität unterworfen, sondern strenge Rechtsanwendung sein.
Wie geht es nach Gesetz und Recht aber weiter, wenn dennoch eine Anklageerhebung unterbleibt? Die Strafprozessordnung lässt für diesen Fall ein so genanntes Klageerzwingungsverfahren zu, in dem Bürger ihren Anspruch auf Rechtsverfolgung durchsetzen können. Diesen Anspruch haben aber nur diejenigen, die durch die Handlung, die sie bestraft wissen wollen, direkt verletzt sind. Nicht jedermann kann das Verfahren in Gang setzen. Es müsste schon jemand sein, den das Bombardement persönlich getroffen hat.
In letzter Zeit wird allerdings mehr und mehr die so genannte Verbandsklage zugelassen. Man hat einem Tierschutzverein erlaubt, eine Anklage wegen Tierquälerei gerichtlich zu erstreiten. Genauso ist jeder der vielen Friedensvereine berechtigt, wegen des gegen das serbische Hoheitsgebiet gerichteten Friedensverrats die Klageerzwingung zu versuchen.
Die Frage ist aber nicht nur für Friedensfreunde wichtig. Auch diejenigen, die auf der Seite der Nato stehen, müssten sich mit ihr befassen. Dauerhaft lässt sie sich nicht totschweigen. Es geht nicht nur um Kriegsverhinderung, sondern auch um die Autorität der Verfassung und der „Rule of Law“-Prinzipien, zu deren Schutz die Nato immerhin „out of area“ agiert.
SIBYLLE TÖNNIES
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