Osteuropa mit dem Rad: Die Rad-Nomadin
2.000 Kilometer auf dem Donauradweg. Allein und mit eigenem Rhythmus durch eine postsozialistische Landschaft.
Jeder Reiseführer über den Donauradweg empfiehlt wegen der Hitze den August zu meiden. Ich allerdings habe die Schnapsidee, die freie Zeit, bevor der Trubel zu meinem neuen Buch „Die Freiheit, allein zu sein“ beginnt, für ebendies zu nutzen. Ich will mit der Donau vor mich hinfließen. In Ruhe und Frieden mäandernd und nomadisch auf dem Weg zum Schwarzen Meer. Bisher habe ich noch jede meiner Schnapsideen konsequent verfolgt, auch wenn 2.000 km mit dem Rad wie eine bodenlose Ungewissheit erscheint.
Beginnend in Bratislava, versuche ich mich in den ersten Tagen von Zweifeln freizustrampeln. Als ich am zweiten Tag in der Slowakei in der Abenddämmerung im Regen stehe, hält ein Auto neben mir. Janeka und Oliver adoptieren mich einfach von der Straße weg in ihr Haus. Sie sind selbst drei Jahre mit dem Fahrrad um die Welt gefahren und wollen die Hilfe, die sie dabei erfahren haben, weitergeben. Es kann keinen ermunternderen Einstieg geben.
Schnell genieße ich die Zeit allein mit der Welt, in meinem Rhythmus, meinem Tempo, meiner Neugier, an riesigen Wänden raschelnder Birken vorbei, durch eine weite postsozialistische Landschaft in sengender Hitze zu fahren. Es herrschen 42 Grad, an mir rollen wüstengleiche Windhosen vorbei. Aber ich genieße es, wie sich mein Geist ans Alleinsein und mein Körper an die Anstrengung anpasst, und gebe beiden Gelegenheit, klare Ansagen zu machen: „Jetzt ein Nickerchen im Schatten“, „Ich brauche Schokolade, alkoholfreies Bier, Chips, Paprika, Tofu“ oder „Fahr jetzt schneller, weil's so schön ist und ich noch ein paar Kalorien verjubeln kann …“
Kurz vor Budapest beginnt es gehörig zu krachen, ich fahre durch einen kühlenden Regenschauer die letzten 20 Kilometer, um mich im prachtvollen Széchenyi-Thermalbad aufzuwärmen.
Und dann eine warme Dusche
In Budapest komme ich bei Judit und Tomi unter. Kennengelernt habe ich sie auf der Webseite Warm Showers, auf der sich FahrradfahrerInnen gegenseitig Unterkünfte oder Hilfe anbieten. Ich schätze diese Idee ähnlich wie beim Pilgern, dass Menschen sich gegenseitig beherbergen, damit man sich allein in die Welt trauen kann.
Anreise Ich nutzte den EuroVelo 4 und den IronCurtainTrail ab Prag als Zubringer, um zum EuroVelo 6 bei Bratislava zu gelangen (etwa 500 km), um von dort die Donau zum Schwarzen Meer entlangzufahren. Nach Prag kommt man gut mit dem Zug. Man kann aber auch mit dem Zug nach Wien oder Bratislava fahren, um dort zu beginnen.
Abreise Vom Schwarzen Meer kann man entweder einen Bus oder ein Flugzeug zurück nehmen. Es empfiehlt sich ein Vergleich der Gebühren, Anmeldung und Transportbedingungen für die Fahrradmitnahme im Flugzeug. Übersichtsseiten findet man im Netz, z.B. https://www.skyscanner.de/nachrichten/fahrradmitnahme-im-flieger-alle-infos-auf-einen-blick. Das Fahrrad muss in einem Karton oder einer Fahrradtasche verpackt sein. Es lohnt sich am Abflugort die Fahrradläden abzutelefonieren, weil die ihre Fahrradkartons gern umsonst hergeben. Wenn man sich das Gedöns mit der Fahrradverpackung sparen möchte, kann man auch den Bus nehmen. Flixbus nimmt das Fahrrad unkompliziert einfach hinten auf einem eigenen Fahrradhalter mit. Nachteil: Die Fahrt dauert um die 30 Stunden.
Die Routen Es gibt 14 Langstrecken-Fahrradwege durch Europa, EuroVelos genannt. Sie verbinden bereits existierende Fahrradwege, oft gehen sie aber auch einfach über einsame Landstraßen, selten, wenn es keine Alternative gibt, auch mal über Schnellstraßen, deren Lkw-Verkehr einem den letzten Nerv rauben können. Die Qualität des Bodenbelags ist oft gut, selten gibt es noch Strecken, die über Kies oder Erde gehen. Kleine Restaurants und Shops, in denen man sich mit Essen eindecken kann, gibt es in fast jedem Dorf. Fahrradreparatur-Sets und Ersatzreifen sollte man aber dabeihaben.
Nach zwei Tagen in der prachtvollen Stadt zieht es mich wieder zurück in Dreck und Mühe. Ab hier werden die Fahrradwege immer seltener, ich fahre fast immer Landstraßen entlang – die meisten ruhig und angenehm. Auch die Beschilderung lässt keine Wünsche übrig. Selten muss ich eine Schnellstraße nutzen, deren Autoverkehr nervtötend sein kann.
Beim Fahren höre ich „Moby Dick“ als Hörspiel, und auch ich muss gegen die an mir vorbeirauschenden Lkws ankämpfen, wie gegen einen großen Wal, der das Böse und Irrationale der Welt symbolisiert. Fast jeden Kilometer befinden sich Gedenkstellen von Verkehrsopfern, viele davon kunstvoll hergerichtet, manche mit Sitzgelegenheit für Trauernde. Einmal wurden vier Bäume für jeden Toten gepflanzt und mit Plastikblumen und Fotos geschmückt.
Im ländlichen Ungarn beschränken sich die offiziellen Sehenswürdigkeiten meistens auf Kirchen, umso mehr freue ich mich in Kalocsa (alternativ zum Paprikamuseum) über das Museum der Kybernetischen Kunst von Nicolas Schöffer, denn dies ist seine Geburtsstadt. Sein Kronos Tower, der eigentlich in Paris hätte realisiert werden sollen, steht jetzt hier am Busbahnhof.
Abends gehe ich oft eine Runde. Ich habe das Gefühl, ich muss nach 60 Kilometer auf dem Rad einen Ausgleich schaffen – wie barfuß laufen, nachdem man hochhackige Schuhe trug, wackelig und elastisch zugleich.
Von Budapest nach Belgrad
Nach weiteren 300 Kilometern erreiche ich Belgrad, eine Stadt, die einen komplett schluckt. Pompös, ruinös, geschichtsschwanger bis zum Überschwappen. Wenn man übers Land radelt und dann in eine größere Stadt kommt, merkt man, wie menschenfeindlich Städte sind. Sie sind für Autos gebaut und eine toxische Mischung aus Trägheit und Gehetztheit. Hier beherbergt mich Yiting, die selbst von Taiwan nach Norwegen mit dem Fahrrad fuhr und nun in Serbien lebt. Abends beim Bier geben wir uns gegenseitige Motivationstrainings: sie mir für die nächsten 1.000 Kilometer und ich ihr, damit sie ihren langweiligen Job verlässt.
Fest davon überzeugt, dass ich der einzige Nerd sein werde, der sich hier das Nicolas-Tesla-Museum ansehen will, stelle ich mich verwundert an eine lange Schlange an der Kasse an. Tatsächlich dominiert hier Spektakel über Information, so kann man in einer Vorführung eine halbe Million Volt starke Blitze an sich vorbeischießen lassen, so dass die Neonröhren leuchten, die man in der Hand halten darf.
Zur rumänischen Grenze
Hinter Belgrad gelange ich nach drei Tagen an den Abschnitt des Donauradwegs, der als der schönste beschrieben wird: Und tatsächlich sind die drei Tage vom Silbersee über das Eiserne Tor hin zur rumänischen Grenze ein gigantisches Natur- und Kulturspektakel, das mich mental und körperlich komplett erschöpft und zugleich begeistert. Beim eisernen Tor beispielsweise muss die Donau, die hier 7 Kilometer breit ist, plötzlich durch eine nur 150 Meter schmale Schlucht.
Ich fahre durch Täler und auf Berge, an atemberaubenden Aussichten vorbei und durch 21 gruselige enge Tunnel ohne Beleuchtung, aber mit viel Autoverkehr, bei denen man, vermute ich, jede Menge Nahtod-Hormone ausschüttet. Dann komme ich an der ältesten Ausgrabungsstätte einer menschlichen Siedlung vorbei: Lepinski Vir und an einem in den Fels meterhoch gehauenem Gesicht des Kaisers Decebal. In einem tiefen Tal entdecke ich tektonische Gesteinsverschiebungen, die einen wieder auf die menschliche Existenz zusammen schrumpfen lassen: Es ist ein psychedelischer Trip, den ich nie vergessen werde. Dabei bin ich so erschöpft, dass ich es gerade noch so bis zur Eisdiele im nächsten Dorf schaffe.
Nach Serbien sehe ich kein einziges Schild des EuroVelos mehr; wer es bis hier geschafft hat, braucht aber auch keine mehr: man folgt einfach der Landstraße.
Doch nun muss man laut Reiseführer eine Entscheidung fällen: eine anstrengende Berg-und-Tal-Fahrt auf der bulgarischen Seite. Oder verwilderte Hunde, die nach Radfahrern jagen, auf der rumänischen Seite, wo es aber es weitestgehend flach ist. Bei Temperaturen zwischen 35 und 40 Grad wage ich die Begegnung mit der Naturgewalt des Tieres lieber als die mit dem Berg.
Tatsächlich leisten sich zweimal laut bellende Hunde mit mir ein Wettrennen. Mehr Angst vor ihrem Biss habe ich davor, dass sie mich auf die Fahrbahn drängen, wenn Lkws kommen. Statt der Angst möchte ich lieber eine sportliche Neugier den Hunden gegenüber entwickeln. Ich hänge vor den Kiosken und in den römischen Ruinen am Strassenrand mit ihnen ab und versuche bei den seltenen Wettrennen einfach die Ruhe zu bewahren. Oft habe ich den Eindruck, dass die Hunde einfach die freilaufenden Haustiere vom ganzen Dorf sind, die Leute stellen ihnen Wasser hin und füttern sie mit Resten.
Bei Swischtow nehme ich die Fähre, um den Weg nach Ruse auf der bulgarischen Seite zu fahren. Abends geselle ich mich zu ein paar alten Männern in eine Kneipe, als ich keine Unterkunft finde. Torun erbarmte sich und bietet mir seine Couch an. Bis spät in die Nacht schauen wir bulgarische Comedy-Serien und essen Schokolade. Zwei Einsame in der Nacht, seine Frau war vor acht Monaten gestorben.
Geschichten aus der EU
Ich erfahre eine Menge über Arbeitsmigration. Wenn ich mit Leuten ins Gespräch komme, gibt es immer jemanden, der Französisch, Spanisch, Englisch oder Deutsch kann, je nachdem, wo sie mal ein paar Jahre gearbeitet haben. Die Frau, die als Krankenschwester in Österreich arbeitet, der Mann, der als Erntehelfer in Deutschland war, der Wirt, der als Automechaniker in Spanien arbeitete … ihre Lebenswege erzählen viele Geschichten über die EU.
Eine gute Radfahrerin weiß, wann sie den Zug nehmen muss, zum Beispiel wenn die Schnellstraße, die aus Ruse hinausführt, für Radler als lebensgefährlich beschrieben wird. Und da ich Zeit sparen muss, wenn ich tatsächlich das Donaudelta erreichen möchte, statt hier nach Varna für den Rückflug abzubiegen, nehme ich den Nachtzug nach Galati. Zwar ist man hier in der Walachei, aber dennoch am Puls der Zeit: In Isaccea gibt es einen Grenzübergang mit der Fähre in die Ukraine. Hier stehen über 200 Lkws mit Hilfsgütern zwei, drei Tage, weil es nur eine Fähre zum Übersetzen gibt.
Dank Google Translate komme ich mit ein paar Fahrern ins Gespräch. Es gibt wenige Momente, in denen ich in besonderer Gesellschaft eine Zigarette mitrauche. Sie laden mich ein, mit rüber in die Ukraine zu kommen und den guten Wein in Ismajil zu kosten. Ich frage mich, ob sie vielleicht einen letzten Rest Normalität behalten wollen, in dem sie mich nach drüben einladen.
Bis zum Schwarzen Meer
Wie zieht sich das Gefühl des Ankommens hin, das frage ich mich, als ich mit Freudengeheul den Berg runter nach Tulcea rolle, der Ort, wo die Donau ab Kilometer null gezählt wird. Danach dröselt sie sich in viele Arme und Seen auf. Ich fahre weiter nach Murighiol, das östlichste Dorf, das ich mit dem Fahrrad im Delta erreichen kann. Der Tourismus hier ist noch von den Bewohnern selbstgemacht, sehr angenehm. Ein Fischer fährt mich 3 Stunden durchs Delta und ich sehe jede Menge Seeschlangen und Pelikane, die mir den Anblick ihrer wellenartigen formierten Flüge schenken.
Am nächsten Tag stehe ich in Sarichioi endlich am Schwarzen Meer. Befremdung, Stolz und Wehmut empfinde ich, dass ich mich der Welt so aussetzen konnte. Ich frage mich, wodurch man, zurück im Alltag, wo man permanent kontrolliert und verhandelt, begreifen wird, was man gelernt hat. Die Welt, die sich mir offenbarte, ist voll mit Dingen, die mich zu Tränen rühren. Nach sieben Wochen Ungewissheit und Erschöpfung weiß ich, dass man immer Wege findet, egal wie beschwerlich sie sind.
Schließlich in Constanza kommt mir als Essenz eines jeden osteuropäischen Urlaubsortes eine Bummelbahn entgegen. Ich miete zwei Tage eine Plastikliege am Strand und liebe es, anderen Leuten beim Urlaubmachen zuzuschauen. Weit hinausschwimmen ins Meer, so fühlte sich die ganze Reise an, bis ans Ende der Welt. Hinaus, bis ich nicht mehr stehen kann, und dort lasse ich meine Beine ins Meer baumeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Innereuropäische Datenverbindung
Sabotageverdacht bei Kabelbruch in der Ostsee
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom