Ost-West-Debatte in der Lausitz: Knusperflocke und die Identitätsschnipsel
Vor Kurzem zog unsere Autorin in die Lausitz. Im dritten Teil ihrer Serie im Vorfeld der Bundestagswahl geht es darum, worüber sich der Osten aufregt.
Zunächst fand ich es vermessen, in der taz-Themenwoche zu Emanzipation über das ost- und westdeutsche Verhältnis zu schreiben. Emanzipation bedeutet, frei oder eigenständig zu werden, und impliziert, dass der Osten das bisher nicht ist.
Ich entschied mich dann aber trotzdem es zu tun, nachdem ich „Ostdeutschland“ in die Google-Suche tippte und die Ergebnisse lauteten: „Wirtschaftlicher Aufholprozess kommt nicht voran“, „Wiedervereinigung gescheitert?“, „Geschichte der Radikalisierung“, „rückläufige Bevölkerungsentwicklung“, „keine gleichen Lebensverhältnisse“ und „warum junge Menschen Ostdeutschland verlassen“. Na, das macht doch Lust auf mehr!
Ich selbst bin knapp 10 Jahre nach der Wende geboren. Für meine Eltern war „Ostdeutsch-Sein“ ein großer Teil ihrer Identität. Ich hingegen hatte lange nicht das Gefühl, das habe etwas mit mir zu tun. Zumindest nicht, bis es mich für mein Studium „rüber“ nach Baden-Württemberg zog. Als eine der sehr wenigen Studierenden aus dem Osten bekam ich diesen Identitätsschnipsel dort aber zugeschrieben.
Aus meinem sächsischen Dorf war ich es gewohnt, dass die Leute andauernd – zugegeben nicht immer wertschätzend – über den Westen sprachen. Deshalb irritierte es mich, wie im Gegensatz dazu meine Mitstudierenden abseits von Nazi-Klischees kaum etwas über die neuen Bundesländer wussten. Während sich Ostdeutsche häufig am Thema Ost-West rieben, dachten viele Westdeutsche scheinbar recht wenig über das Thema nach.
Dies ist der zweite von sechs Texten der Reihe „Geschichten aus der Lausitz“. Sie erscheinen wöchentlich bis zur Bundestagswahl am 23. 2. Sie finden sie auf dem Autorinnenprofil von Linda Leibhold.
Aufgrund oder parallel zum Erstarken des Rechtspopulismus vor allem in strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands rückte die Thematik in den vergangenen Jahren immer mehr in den gesellschaftlichen Fokus. In der öffentlichen Darstellung bewegt sich Ostdeutschland dabei häufig irgendwo zwischen Sorgenkind und Schandfleck.
Als die Autorin und Filmemacherin Grit Lemke im vergangenen Herbst den Bestseller-Autor Dirk Oschmann („Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“) nach Hoyerswerda zum Gespräch einlud, fanden sich Gerda und ich in einem unüblich prall gefüllten Saal wieder.
Ein westdeutscher Mann
Die Veranstaltung begann mit der Abfrage, wer aus dem Publikum aus Westdeutschland stamme (fünf Hände) und wer ostdeutscher Herkunft sei (alle anderen). Im Zwiegespräch thematisierten die beiden Expert*innen die Klassiker der Ost-West-Unterschiede: Lebensbedingungen und -erwartungen, Einkommen, Vermögen und Repräsentanz in Führungs- und Machtpositionen. Neben diesen messbaren Ungleichheiten diskutierten die Autor*innen auch Fragen zur ostdeutschen Opferrolle und westdeutschen Arroganz. So weit, so bekannt.
Interessant wurde es, als das Podium dem Publikum die Möglichkeit eröffnete, Fragen zu stellen. Kurze Stille. Schließlich hob ein mittelalter Mann die Hand. In einem ausschweifenden Redebeitrag echauffierte er sich über die heutige Veranstaltung. Er sei selbst einer der wenigen anwesenden Westdeutschen hier und fühle sich überaus ungerecht behandelt: „Ich habe einige sehr gute Freunde aus Ostdeutschland und wir haben uns immer nett unterhalten. Hier eine Stunde lang so spalterisch Probleme zu schüren – das hilft sicher keinem weiter!“ Spannend.
Stimmung wurde hitziger
Es meldete sich eine junge Frau zu Wort, sichtlich aufgebracht: „Dass sich nach allem Gesagten ausgerechnet ein Wessi als erstes äußert und solch einen Kommentar ablässt – das ist an Dreistigkeit nicht zu überbieten.“ Im Grunde war die folgende Dreiviertelstunde ein wutentbranntes Ringen darüber, wer wo noch schlechter verdiene und wie am härtesten getroffen sei. Die Stimmung wurde zunehmend hitziger, mir war körperlich unwohl. Ein Kassierer aus Fulda beschwerte sich über unterirdische Arbeitsbedingungen, woraufhin eine Krankenschwester aus Hoyerswerda erklärte, warum es bei ihr noch schlimmer sei.
Gerda flüsterte mir ins Ohr: „Ich glaub, wir müssen hier raus, ehe es handgreiflich wird.“ So etwas hatte ich bei einer Kulturveranstaltung noch nicht erlebt. Im Raum waren so viel Wut und Frust und Vorwürfe, dass es mir die Sprache verschlug. Mit einer merklich betroffenen Abmoderation wurde der Abend schließlich für beendet erklärt. Schnell raus. Das Ganze wollte mir nicht so richtig aus dem Kopf gehen. Es ist mehr als verständlich, dass Ungerechtigkeiten für Frust und Wut sorgen. Aber warum feinden sich dann ausgerechnet die Leute gegenseitig an, die doch offensichtlich alle unter ähnlich schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen leiden?
Immer öfter habe ich den Eindruck, dass viele Kämpfe an vermeintlichen Trennlinien ausgetragen werden, beispielsweise Ost und West oder auch Stadt und Land. Als dienten sie stellvertretend zum Spannungsabbau der eigentlichen Ungerechtigkeiten in einer hierarchisierten Gesellschaft. Haben also wirklich ein westdeutscher Kassierer und eine ostdeutsche Krankenschwester einen Konflikt, oder liegt das eigentliche Problem vielmehr in der ungleichen Machtverteilung zwischen wenigen Eliten und der breiten Bevölkerung? Vielleicht ist das auch nur der linke Idealismus, der da aus mir spricht, wer weiß das schon.
Mir bleibt die Erkenntnis: Natürlich gibt es keine „universelle, ostdeutsche Identität“, die sich irgendwie integrieren oder vom Westen emanzipieren müsste. Oder gar könnte. Was es sehr wohl gibt, sind anhaltende strukturelle Benachteiligungen – insbesondere in den ländlichen Regionen des Ostens. Das spüren die Leute. Manchmal habe ich den Eindruck, wir verwenden mehr Energie darauf, über Politikverdrossenheit und Demokratieabkehr zu diskutieren, als diese grundlegenden Ungerechtigkeitserfahrungen ernst zu nehmen und für gleichwertige Lebensverhältnisse einzustehen. Diese hochkomplexe Gemengelage wird uns sicher noch über Jahre beschäftigen. Deshalb verbleibe ich vorerst damit, der eingangs erwähnten Schlagwortsuche wenigstens ein bisschen was entgegenzusetzen.
Hier eine unsortierte Liste an Dingen, die ich persönlich mit Ostdeutschland (oder Sachsen oder Dorf oder wie auch immer) verbinde und super finde:
Pragmatismus, Knusperflocken, Humor, Senioren-Kegeln, Arbeiterbiografien, zu starke und zu billige Rum-Cola auf dem Dorffest, Radio PSR, Einfallsreichtum, „Muss ja“ als Antwort, wenn man sich erkundigt, wie es jemandem geht, Bautzner Senf, zu ernst Skat spielen, praktisches Denken, geblümte Plastiktischdecken, Hilfsbereitschaft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Merz bricht Tabu
Die Abrissbirne der Demokratie
Antrag gegen Migration im Bundestag
Über die Merzgrenze
Antrag auf ein Parteiverbot
Merz ist kein Opfer der AfD
Bundestagsabstimmung gegen Migration
Die Ja-Sager und die Nein-Sager
Liberale in der Union
Wo bleibt der Widerspruch?
Antrag auf AfD-Verbot
Die Zivilgesellschaft macht Druck