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Orte der sozialen SpaltungWo die Nichtwähler wohnen

Obwohl die Lage im ehemaligen Brennpunkt Tenever stetig besser wird, ist die Wahlbeteiligung bei der Wahl auf ein Rekord-Tief gesunken. Ein Besuch vor Ort.

Wenn Politiker hierher kommen, dann um sich mal am "Brennpunkt" sehen zu lassen. Bild: Jan-Paul Koopmann

BREMEN taz | Ein grell-oranger Zettel ist in Tenever der letzte sichtbare Hinweis auf die Wahl. „Hier geht es zum Wahllokal“, steht da – darunter ein Wort mit 17 Ausrufezeichen: „Hingehen“. Viel gebracht hat’s nicht: Mit 31,8 Prozent hat das Hochhausquartier am Stadtrand die niedrigste Beteiligung in Bremen.

Die Bertelsmann-Stiftung hat bereits nach der Bundestagswahl 2013 konstatiert: Je prekärer die Lebensverhältnisse, desto weniger wird gewählt. In Tenever sind 21,3 Prozent der Menschen arbeitslos, fast 70 Prozent haben Migrationshintergrund. Die seit Freitag vorliegende Anschlussuntersuchung zur Bremen-Wahl bestätigt dieses Bild – die Schere hat sich sogar noch weiter geöffnet. „Deutschland ist längst eine sozial gespaltene Demokratie“, sagt Robert Vehrkamp, der die Studie durchgeführt hat.

In Tenever ist die Situation sogar noch drastischer als die Zahlen angeben. Denn viele MigrantInnen dürfen gar nicht wählen und tauchen darum auch nicht in der Statistik auf. Einer, der darf, aber nicht will, ist Abdin Öz: „Die falsche Politik will ich nicht mit meiner Stimme legitimieren“, sagt er. Er meint Rüstungsexporte und Kriege. Aus Sicht der Forscher ist er als politisch motivierter Nichtwähler allerdings eine Seltenheit in dieser Gegend.

„Ich mache da nicht wieder mit“, sagt eine ältere Frau an der Bushaltestelle, „hier kommt ja nichts mehr.“ Früher habe sie „immer pünktlich gewählt“, sagt sie. Beim letzten Mal: Helmut Kohl. „Mir ist das unwichtig“, sagt ein junger Mann, der zum Rauchen vors Haus gegangen ist. Auch von seinen Freunden sei keiner gegangen, sagt er. In der Schule hätten sie noch darüber gesprochen. Eigentlich wollte er auch. Am Wahlsonntag sei er dann aber doch zu Hause geblieben. „Keine Ahnung weshalb.“ Im gut situierten Schwachhausen dagegen kam es in Stoßzeiten zu Staus an den Wahllokalen. Familien spazierten geschlossen zur Wahl, dann weiter ins Café. Wer in Tenever zur Wahl gegangen ist, war ein Sonderling.

Dabei gab es durchaus Versuche, die Menschen aus den Hochhäusern an die Urne zu bringen. Solche wie den orangen Wegweiser mit den Ausrufezeichen. Der stammt aus dem Büro von Quartiersmanager Jörn Hermening. „Ja, die Zahl ist sehr beunruhigend“, sagt er. Die eigentlichen Probleme aber seien hier Arbeitslosigkeit und Bildung. Dass die Abgehängten nicht in Scharen zur Wahl rennen, wundere ihn nicht. Trotzdem war das Schild nicht der einzige Versuch. „Wir haben ständig mit den Leuten darüber gesprochen, warum wählen wichtig ist“, sagt Hermening.

Auch die Parteien haben es schon versucht: Bremen Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) war mit Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) zu einem seiner seltenen Wahlkampf-Auftritte ausgerechnet hier in Tenever. Und die im Bezirk sogar überdurchschnittlich erfolgreiche Linke hat mit Gregor Gysi ihren größten Promi gleich um die Ecke der Hochhäuser antreten lassen.

„Trotzdem“, sagt Silvia Suchopar vom Bewohnertreff, „haben die Leute keine Idee, wen sie wählen sollten.“ Wenn mal ein Politiker nach Tenever käme, dann doch nicht, um mit den Menschen zu sprechen – sondern um sich mal am Brennpunkt blicken zu lassen.

Dabei hat sich im Quartier auch finanziell viel getan: 80 Millionen Euro sind in die Sanierung des ehemaligen Problemviertels geflossen. Hunderte Projekte hat das Quartiersmanagement auf den Weg gebracht, für mehr als 250.000 Euro im Jahr. Das alles demokratisch niedrigschwellig unter enger Einbeziehung der BewohnerInnen.

Über die selbst verwalteten Budgets ist politische Macht nach unten abgegeben und dort erfolgreich genutzt worden: im Mütterzentrum zum Beispiel, einem viel genutzten sozialen Begegnungsraum. Oder in den Stadtteil-Opern, die Kammerphilharmornie und Gesamtschule-Ost in Kooperation aufführen. Beide Projekte wurden erst kurz vor der Wahl mit dem Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon ausgezeichnet. All das ist zwar hoch gefördert, im Kern aber doch selbst gemacht. Vielleicht liegt es auch daran, dass kaum jemand hier diese Erfolgsgeschichte mit dem Rathaus und den Wahlen in Verbindung bringt.

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