Orientalistin über Völkermord: „Der Schlüssel liegt im Bundestag“
Die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern durch den Bundestag würde Türen öffnen, meint die Orientalistin Anush Hovhanisjan.
Taz: Die Entscheidung über eine Einstufung des türkischen Massakers an den Armeniern vor 100 Jahren als Völkermord ist heute vom Bundestag vertagt worden. Wie schätzen Sie das ein?
Anush Hovhannisyan: Für mich ist es ist nichts Neues. Ich glaube schon, dass viele deutsche Abgeordnete aufrichtig bestrebt sind, sich zur eigenen Mitverantwortung zu bekennen. Doch ist die Realpolitik leider anders. Auf der deutschen Tagesordnung steht die Flüchtlingskrise, die sich derzeit nicht lösen lässt. Und wenn, dann nur mit Hilfe der Türken. Genau mit diesem Argument versucht Ankara, den Entscheidungsprozess im Bundestag zu beeinflussen.
Würden Sie die heutige Entscheidung des Bundestages also als Folge der Drucks von Ankara bezeichnen?
Ja und nein. Leider versucht jede Seite das Thema Völkermord als Druckmittel einzusetzen. Heute benutzt es Erdogan gegen Merkel, gestern war es genau umgekehrt. Eine der Bedingungen für einen EU-Beitritt der Türkei war doch die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern. Dabei steht Deutschland nicht allein da. Das gleiche Spiel mit der Türkei betreiben auch andere EU-Länder und die USA.
Warum ist die Anerkennung des deutschen Bundestages besonders wichtig für die armenische Frage?
Der Schlüssel liegt im Bundestag. Erstens, geht es um die deutsche Verantwortung für die Beihilfe zum Völkermord. Deutschland war während des Krieges ein Partner des Osmanischen Reiches und hat heute eine feste Beziehung, einen besonderen Zugang zur Türkei. Und zweitens hat Deutschland eine entscheidende Stimme in der EU. Deswegen würde die Anerkennung des Völkermordes durch den deutschen Bundestag mehrere Türen gleichzeitig öffnen. Auch andere europäische Parlamente würden dem deutschen Beispiel folgen.
Sind Sie nicht zu pragmatisch?
Nein. Eher pessimistisch. Die Tendenz zur Rechtsradikalisierung der deutschen Gesellschaft legt es nahe, dass in der unmittelbaren Zukunft die Völkermordfrage im deutschen Parlament nicht mehr zur Debatte stehen wird. Der perfekte Augenblick dafür war, als Bundespräsident Joachim Gauck im vergangenen Jahr aus Anlass des 100. Jahrestages gefordert hatte, den Völkermord anzuerkennen. Diese Möglichkeit wurde vertan. Trotzdem müssen wir alles dafür tun, dass sich vor allem die deutsche Gesellschaft bewusst mit dieser Thematik auseinandersetzt.
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