„Die Bewegung muss viel radikaler werden“

Am kommenden Samstag wollen tausende Menschen zur Demo „Welcome United“ in Hamburg kommen. Ein Gespräch mit zwei der Organisatorinnen über Migrationspolitik, die antirassistische Bewegung in Deutschland und deren Veränderungen seit den 90er Jahren

Auch die „Wir-sind-mehr“-Kundgebung im September in Chemnitz, bei der unter anderem die Rapperin Nura auftrat, setzte ein Zeichen gegen Rassismus Foto: Stefan Müller/pop-eye/imago

Interview Christian Jakob

taz: Die „We’ll Come United“-Parade am Samstag in Hamburg soll die größte explizit antirassistische Aktion werden, die es bislang in Deutschland gab. Sie rechnen mit 25.000 TeilnehmerInnen. Woher kommt dieser Optimismus, Frau Duman und Herr Kopp?

Newroz Duman: In Deutschland engagiert sich immer noch fast ein Fünftel aller Menschen in Strukturen, die solidarisch mit Geflüchteten sind. Außerdem sind Millionen MigrantInnen und Geflüchtete Teil unserer Gesellschaft. Das bildet sich politisch und medial nicht ab, aber ist die Realität, auf die wir setzen. Samstag wird der Tag, an dem wir diese Gesellschaft der Vielen auf der Straße zeigen wollen und gegen den Rassismus von AfD, Frontex, Ausländerbehörden und der Bundesregierung demonstrieren. Und mit Sicherheit spielt auch die Politik von Salvini, Seehofer oder Kurz eine Rolle.

Hagen Kopp: Wir stehen ja nicht am Anfang der Proteste gegen diese neue Achse der Schande von Rom über Wien und Budapest nach Berlin. Schon Ende Juni begann es zu rumoren. Da haben die ersten Städte erklärt, Gerettete aus dem Mittelmeer aufnehmen zu wollen. Am 7. Juli dann ging es los mit den Seebrücken-Demos, die Zehntausende auf die Straße brachten, dann in Chemnitz, das Konzert nach dem Nazi-Aufmarsch, mit 70.000 Menschen. Der Schwung dieser Bewegungen ist jetzt da. Und wir hoffen, dass viele Leute verstehen, was nun an Welcome United das Besondere ist.

Was denn?

Kopp: Dass Geflüchtete und MigrantInnen dabei selbst die erste Rolle spielen und ihre Geschichten und Kämpfe gemeinsam zur Sprache bringen.

Sie haben in den 1990er Jahren das Netzwerk „Kein Mensch ist illegal“ mitgegründet. Hätten Sie damals 25.000 Menschen auf die Straße gebracht?

Kopp: Ich würde sagen, nein. Bei der Demo gegen die Asylrechtsverschärfung 1992 in Bonn waren etwa 10.000 Menschen, danach waren die Aktionen meist sehr viel kleiner. Ab 2013 haben sich die Kämpfe der Geflüchteten immer weiter verdichtet und es gab einen medialen Umschwung mit dem Lampedusa-Unglück. Und dann den Durchbruch auf der Balkanroute im September 2015. Ich hätte vorher nie geglaubt, dass Migrationsbewegungen einen so bahnbrechenden Erfolg haben können. Es haben sich in dieser Phase viele neue Alltagsstrukturen gebildet, zum Beispiel auch die Seenotrettung.

Die ZAG, die Zeitschrift für Antirassismus, hat die Bewegung von Anfang an begleitet. Im Vorwort ihrer letzten Nummer zieht sie eine ernüchternde Bilanz: Nach 20 Jahren stehe der Antirassismus wieder genau da, wo er angefangen hat. Stimmt das?

Am Samstag, den 29.9., startet die "Welcome United"-Parade um 12 Uhr in Hamburg auf dem Rathausmarkt. Über 1200 Organisationen, Initiativen und Gruppen gehören zu den Erstunterzeichnern des antirassistischen Aufrufes. Zur Parade für Teilhabe, gleiche Rechte und Solidarität werden 25.000 Demonstrierende erwartet.

Kopp: Ich würde dem sehr widersprechen. Das Rollback ist unbestreitbar. Aber die Strukturen, die sich entwickelt haben, sind nachhaltig: Die gestärkten Communities der MigrantInnen, denn Hunderttausende haben ja ihr Bleiberecht durchgesetzt. No Border-Gruppen, Kirchenasyl, Willkommensstrukturen und -Cafés, Flüchtlingslotsen, das sind alles Sachen, die zählen, die heute den Alltag ausmachen. Und die jetzt eben auch die breite Empörung über die Eskalation der Abschottung im Mittelmeer praktisch unterfüttern.

Die Flüchtlingssolidarität ist heutzutage also so stark wie nie zuvor, aber die Politik macht heute flüchtlingsfeindlichere Politik denn je. Wie geht das zusammen?

Duman: Das ist Teil eines größeren Prozesses, einem autoritären Umbau der Staaten in ganz Europa, die sich abdichten gegen soziale Bewegungen. Der Rechtsruck, der in den letzten Jahren Politik auf Grundlage von Angst macht, hat seine Politik von oben gegen einen großen Teil der migrantischen und der solidarischen Bevölkerung durchgesetzt.

Kopp: 2016 wurde begonnen, die Grundlagen für die rechtlichen Verschärfungen – schnellere Verfahren, Ankerzentren, Abschiebehaft, Charter-Abschiebeflüge – zu legen. Wir hatten nicht die Kraft, dagegen zu halten, konnten aber vieles durch Unterstützungsarbeit auffangen. Das hat sich jetzt geändert: Der Apparat hat sich viel weiter eingespielt und nutzt die neuen Rechtgrundlagen, um gegen Geflüchtete mit aller Gewalt vorzugehen.

Damals saß die Antirassismus-Bewegung in einer gesellschaftlichen Nische vor allem aus Kirchenleuten, K-Grüpplern und Autonomen. Wie ist es heute?

Kopp: Wie anders es ist, hat erst letzte Woche das Integrationsbarometer gezeigt: Seit 2015 gab es nur minimale Änderungen der positiven Haltung gegenüber Flüchtlingen und Migration. Das, was der veröffentlichte Diskurs ist, was die meinetwegen 25 Prozent der Rechten sagen, und wie das dauernd überall zum Thema gemacht wird, trifft also mitnichten eine Gesamtstimmung. Die Rechten sind laut und mögen alles übertönen, aber das sagt nicht, dass sie sich gesellschaftlich durchgesetzt hätten. Es gibt einen größeren Gegenpol, der sich wieder mehr Gehör und Gewicht verschaffen muss.

Salvini, Kurz, Orban und auch Seehofer haben ganz real die Macht. Das ist keine Frage von Übertönen mehr.

Foto: privat

Newroz Duman, 29, ist Kurdin und 2002 über das Mittelmeer nach Deutschland geflüchtet. Seit 2008 bei "Jugendliche ohne Grenzen" aktiv. Sie ist Sprecherin von Welcome United.

Kopp: Was Europa angeht, stimmt das natürlich. Aber es gibt auch da Gegenstrukturen. Die reichen von dem Bürgermeister von Palermo bis hin zu den beeindruckenden Unterstützern auf dem Alpenpass zwischen Italien und Frankreich bei Ventimiglia. Keine Grenze schließt sich, ohne dass auch neue Unterstützungsstrukturen entstehen.

Was tun die, wenn die, die im Zentrum der Macht sitzen, ein Europa ohne Migration wollen?

Duman: Die Zivilgesellschaft ist heute sehr sichtbar, mit der „#ausgehetzt“ oder der „unteilbar“-Demo; bei „Wir sind mehr“ oder eben bei We’ll Come United. Aber das reicht nicht mehr. Es geht nicht mehr darum, Teddybären zu verteilen oder „Herz statt Hetz“-Aufkleber. Die Bewegung muss viel radikaler werden. Das meinen wir mit „Aufstand der Solidarität“: Radikal Menschen schützen.

Der Ausweg ist also die kommunale Ebene, die Sanctuary Cities?

Duman: Ja, beispielsweise. Wir müssen solidarische Städte entstehen lassen. Wir müssen die lokale und die transnationale Ebene miteinander verbinden. So kann man das Nationale unterlaufen und gleichzeitig überspringen.

Viele Asylrechtsexperten sehen aber rabenschwarz für den Flüchtlingsschutz.

Foto: taz

Hagen Kopp, 58, hat 1997 das Netzwerk "Kein Mensch ist illegal" mitgegründet und ist seither in vielen Initiativen der antirassistischen Bewegung aktiv.

Kopp: 2014, im Oktober, haben wir mit dem Alarm-Phone angefangen. Da war in Griechenland die Situation auf dem Meer viel schlimmer als heute. Die Dinge ändern sich, und man kann beeinflussen, wie. 2010 war die Migration über das zentrale Mittelmeer quasi gestoppt durch die Kooperation zwischen Berlusconi und Gadafi. Es gab damals schon fürchterliche Situationen für die Flüchtlinge. Dieses Grenzregime hat dann nicht mal ein Jahr gehalten. Daraus kann man Mut schöpfen.

Die Forderungen von Welcome United am Samstag sind praktisch dieselben wie von Kein Mensch ist illegal in den 90er Jahren. Warum ist es nicht gelungen, weiter voran zu kommen?

Duman: Was wir fordern, ergibt sich aus dem, was wir erleben: Dublin-Abschiebungen, verweigerte Familienzusammenführung und so weiter. Und ja, viele dieser Gesetze habe ich viele Jahre selbst zu spüren bekommen, nachdem ich 2002 nach Deutschland kam: Ausbildungsverbot, Arbeitsverbot, Residenzpflicht, Abschiebung in der Familie. Aber man muss sehen, wie viele Menschen heute daran arbeiten, Rechte von Fall zu Fall immer wieder neu durchzusetzen.

Kopp: Die Situation ist heute grundlegend anders. Es gibt einen lauten Rechts-Pol und einen leiseren, aber sehr wohl existierenden solidarischen Pol in der Gesellschaft. Die offene Frage ist: Wie kommen wir wieder in die Offensive? Wir wollen nichts schönreden, aber die Ausgangsbedingungen dafür sind ungleich besser als in der wirklich unglaublich defensiven Situation in den 1990er Jahren.