Oranienstraße in Berlin: Straße von Welt
Laut dem Magazin „Time Out“ ist die Oranienstraße eine der „coolsten Straßen der Welt“. Das kann aber nur mit ihrer glorreichen Geschichte zu tun haben.
D ass das global operierende Stadt-und Reisemagazin Time Out unter einem Minderwertigkeitskomplex leiden würde, kann man nicht unbedingt behaupten. Es hat eben mal wieder das getan, was inzwischen zu seiner Hauptbeschäftigung geworden zu sein scheint, nämlich irgendein Ranking aufgestellt. Dieses Mal mit den „coolsten Straßen der Welt“. Und lässt nun eine seiner Redakteurinnen in Australien behaupten, die Siegerstraße, die High Street in Melbourne, sei damit „offiziell“ die Straße, die bezüglich Coolness vor allen Schnellstraßen, Sackgassen oder Feldwegen auf der ganzen Welt liege.
Außerhalb Berlins kriegt zumindest in Deutschland wahrscheinlich kein Mensch mit, was das Time Out da andauernd an Listen heraushaut, die funktionieren sollen wie Hitparaden. Weil eigentlich so gut wie immer nur Berlin in diesen auftaucht und die Bewohner von Göttingen oder Remscheid eh wissen, dass ihr Heimatort nie Einzug in die Time-Out-Charts finden wird.
Neulich etwa in der Aufzählung der angeblich „40 coolsten Stadtviertel der Welt“ war aus Deutschland wieder nur Berlin exklusiv vertreten (Platz 22: Neukölln). Und in der aktuellen Straßen-Top-30 ist aus diesem Land, das ja eigentlich weltberühmt ist für seine fantastischen Straßen (Autobahnen!), erneut nur die Hauptstadt mit dabei. Und zwar mit einem soliden Platz zwölf für die Oranienstraße in Kreuzberg.
Als Berliner ist man, selbst wenn man mit ordentlich Lokalpatriotismus ausgestattet ist, geneigt, in Richtung Time Out zu sagen: Gönnt den anderen doch auch mal was! In Hamburg gibt es doch sicherlich auch ein paar schöne Fleckchen (auch wenn einem gerade keiner einfällt). Oder lasst halt das mit dem „cool“ weg, dann kann vielleicht sogar München mal etwas holen.
Man kann sich auch einfach tot siegen
In anderen deutschen Städten versteht man das vielleicht nicht, aber man kann sich auch einfach tot siegen. Dann kann es passieren, so wie nach dem Time-Out-Ranking vor ein paar Monaten, in dem Berlin sogar zur „allerbesten Stadt Europas“ erklärt wurde, dass das nicht einmal mehr in Berlin selbst für besonders viel Aufsehen sorgt. Niemand sagt hier jetzt: „Nimm das, London!“ Sondern man denkt eher an den katastrophalen Wohnungsmarkt um einen herum und die ständig steigenden Mieten und dass beides einfach nicht so richtig zu der Auszeichnung „Allerbeste Stadt“ passen will.
Mit der Oranienstraße ist das ganz ähnlich. Das soll die coolste Straße Berlin und damit Deutschlands sein? Das war sie vielleicht einmal, aber inzwischen ist der Lack doch ordentlich ab und der Ruf von einst eher nur noch ein Mythos. Die Punks und die Türken, die hier einmal Seite an Seite gewohnt haben mögen, sind zum Großteil längst weggentrifiziert worden.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Und wegen der Musikhistorie im Konzertschuppen SO36 vorbeizuschauen, wie es das Time-Out-Magazin seiner Leserschaft empfiehlt, das kann man ruhig machen, der Laden hat tatsächlich seine Verdienste. Aber David Bowie und Iggy Pop wird man sich dabei sicherlich nicht näher fühlen, so wie es einem in der Laudatio des Online-Magazins versprochen wird. Die beiden waren während ihrer Berlin-Jahre anderswo in der Stadt unterwegs und bereits wieder auf dem Abflug, als das SO36 überhaupt erst gegründet wurde.
Die Oranienstraße zehrt noch ein wenig von ihrer vergangenen glorreichen Geschichte, aber die wirklich coolste Straße in Berlin ist heute die Sonnenallee in Neukölln. Mit seiner migrantischen Community, den Baklava-Geschäften und dazwischen einem Laden für Club- und Fetischklamotten, wie „Nakt“ einer ist. Somit, nun offiziell: Die wahre Nummer eins in Berlin und ganz Deutschland ist die Sonnenallee.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl