Opposition in Belarus: Die größte Gefahr ist das Vergessen
Das Schweigen über die Opposition in Belarus gegen Lukaschenko ist ohrenbetäubend. Dabei sitzen immer noch 1.498 Menschen im Knast.
E s ist noch nicht lange her, da interpretierten Kommentatoren die Gesichtsfarbe oder die Mullbinde am Handgelenk von Alexander Lukaschenko, dem belarussischen Machthaber, sehr genau. War der Diktator krank? Im Krankenhaus? Dem Tod nahe? Das mag auf manche albern gewirkt haben, aber für eine Gesellschaft, die von Lukaschenko tyrannisiert wird, ist die Frage nach seinem Gesundheitszustand zukunftsbestimmend. Lebt er, kann er weiterhin Menschen einsperren, sie ihrer Freiheit berauben. Stirbt er, dann, ja… was dann eigentlich?
Leider ist dabei die Aufmerksamkeit für die Tyrannisierten etwas verloren gegangen. Wie geht es eigentlich der Opposition?
Im August jähren sich die großen Proteste in Belarus gegen die manipulierte Präsidentschaftswahl zum dritten Mal. Eine Diktatur, die über Jahrzehnte mit ihrer Härte und Kälte auf die Entfremdung der Menschen voneinander, auf den Verlust von Menschlichkeit abgezielt hatte, musste im Sommer 2020 feststellen, dass diese Gesellschaft wieder zu sich gefunden hatte. Es entwickelte sich eine Bewegung, die auf Selbstorganisation und Solidarität setzte und die auf die Gewalt und Repressionen des Staates mit Witz und Ironie reagierte anstatt sich wegzuducken. Vor dieser Kraft, diesem Mut habe ich tiefsten Respekt.
Das Regime ist seitdem hart gegen jegliche Oppositionelle vorgegangen und gegen normale Bürger:innen, die für ein freies Belarus auf die Straße gegangen sind. Laut der Menschenrechtsorganisation Viasna sitzen derzeit 1.498 politische Gefangene in den Gefängnissen von Belarus. 1.498 Menschen zu viel, denen eine Zukunft gestohlen wurde.
Aus Angst
Vielleicht fragt kaum noch jemand nach den Oppositionellen, weil sie selbst verstummt sind. Aus Angst: Fast niemand im Land will noch reden. Auch wer im Exil lebt, ist vorsichtig. Und wer sprechen möchte, gar aus dem Gefängnis heraus, wird ebenfalls davon abgehalten. Das lässt sich seit einigen Monaten beo-bachten.
Seit über 1.000 Tagen sitzt Maria Kalesnikava unschuldig im Gefängnis. Sie war neben Swetlana Tichanowskaja und Veronika Zepkalo Teil des Frauentrios, das Lukaschenko bei der Präsidentschaftswahl herausforderte. Als man sie aus dem Land schmeißen wollte, bereits an die Grenze gekarrt hatte, zerriss sie ihren Pass. So einfach wollte sie es dem Regime nicht machen, sie loszuwerden. Kalesnikava wurde zu elf Jahren Haft verurteilt. Um ihre Gesundheit steht es schlecht, sie überlebte knapp eine Not-OP. Immer wieder wird sie in Isolationshaft gesteckt, und nun fehlt seit knapp vier Monaten ein Lebenszeichen von ihr.
Auch zu anderen prominenten Regimegegnern gibt es keinen Kontakt: Blogger und Journalist Ihar Losik, der zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde und dort versucht hatte, Suizid zu begehen. Viktor Babariko, der 2020 gegen Lukaschenko antreten wollte und zu 14 Jahren Haft verurteilt wurde. Er wurde kürzlich im Gefängnis verprügelt und ins Krankenhaus eingeliefert. Maxim Znak, Jurist und Anwalt von Babariko, bekam 10 Jahre Strafkolonie. Sergej Tichanowski, der Ehemann von Swetlana Tichanowskaja, sitzt seit drei Jahren in Isolationshaft.
Abschottung
Lukaschenko hat das Land kontinuierlich abgeschottet. Er will keine Zeugen, deshalb sperrt er die Menschen ein; er isoliert sie von ihren Familien, ihren Freundinnen und Freunden und der Welt.
Diese Menschen erfahren in den Strafkolonien Folter. Ihre Isolation, dieses bewusste Sie-in-Vergessenheit-geraten-Lassen, ist eine brutale Form der Auslöschung dieser Menschen, und eben auch Gewalt.
Das Schweigen ist ohrenbetäubend. Doch dahinter verbergen sich Stimmen, sind Menschen. Ihre größte Bedrohung ist unser Vergessen.
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