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Ohne Muttersprache keine gute Zweitsprache

Migrantenkinder sollten auch die Sprache ihrer Mütter beherrschen. In den Niederlanden ist das eine alte These – und 30-jährige Praxis. Auch Hamburg und Berlin kommen nun auf den Trichter. Und lernen die Probleme kennen – zum Beispiel, dass man auch zweisprachig radebrechen kann

BERLIN taz ■ Vorstellungsgespräch irgendwo in Deutschland. Der Bewerber rutscht nervös auf seinem Stuhl hin und her. „Sprechen Sie eine Fremdsprache?“ Erleichtert antwortet er: „Englisch, fließend.“ Die Retourkutsche folgt: „Ich fragte nach Fremdsprachen.“

Vielsprachigkeit ist eine Chance. Eine Erkenntnis, für die die Hamburger Schulbehörde eine Vielzahl von Wissenschaftlern brauchte. Die Hansestadt hat vor zwei Jahren als erstes Bundesland begonnen, die Sprachentwicklung zweisprachig aufwachsender Kinder zu untersuchen. Das Leben mit zwei oder mehreren Sprachen, so erklären die Wissenschaftler, kann ein großer Vorteil sein. Und ein Nachteil – wenn das Erlernen der beiden Sprachen planlos ist. Man könne nämlich nicht davon ausgehen, dass ein Kind schon „von alleine“ Deutsch lernt, wenn man es nur in eine Klasse mit deutsch sprechenden Kindern einschult.

Die meisten Eltern zweisprachig aufwachsender Kinder in Deutschland kommen aus der Türkei. Die deutschen Schulen haben es aber jahrelang versäumt, kontinuierlichen Sprachunterricht in beiden Sprachen und eine interkulturelle Erziehung anzubieten. Die Folge sind mangelnde Deutschkenntnisse und fehlende Schulabschlüsse. In Berlin etwa leben 150.000 Menschen mit einem türkischen Pass. Die Arbeitslosenquote bei den Deutschen liegt bei 17 Prozent, die der Türken bei 27 Prozent. Ein Drittel der jungen Türken haben noch nicht einmal einen Hauptschulabschluss.

Die Niderlande machen es anders. Um die Kinder der Einwanderer in die niederländische Gesellschaft zu integrieren und sie nicht zu zweisprachigen Analphabeten werden zu lassen, unterrichten sie die Kinder seit 1974 auch in ihrer Herkunftssprache und Kultur. Zur Begründung hieß es, der Erhalt der eigenen Kultur sei wichtig für die Identität und somit auch für die Integration der Kinder.

Eine Feststellung, die zum Kern des Hamburger Gutachtens gehört – dreißig Jahre danach: Eine Kombination von systematischer Förderung beim Erwerb der Zielsprache und Einbeziehung der Herkunftssprache führe zu deutlich besseren Ergebnissen. Mehrsprachigkeit muss als Chance für die deutsche Gesellschaft verstanden werden, sagt Hans-Joachim Roth, Erziehungswissenschaftler an der Universität Hamburg.

Menschen, die ihre Einreise mit deutschen Wurzeln begründet haben, fällt es allerdings oft schwer, die eigene Kultur als Chance zu verstehen. Zögerlich verhalten sich beispielsweise viele polnischstämmige Eltern in Hamburg, wenn es darum geht, ihre Kinder zum Muttersprachunterricht anzumelden. Die Angst, den Kindern neue Ausgrenzungserfahrungen zu bescheren, hindert sie, einen solchen Schritt zu tun. Die Kinder in der Herkunftssprache zu fördern, hält auch die Hamburger Sprach- und Erziehungswissenschaftlerin Inci Dirim für sehr wichtig. Gerade im familiären Rahmen würden Kinder besser gefördert, wenn sie beispielsweise die Post oder die Tiere im Zoo in ihrer Muttersprache erklärt bekämen, als wenn die Mütter ihnen eine Sprache nur radebrechend beibringen, die ihnen selber nicht vertraut ist. Die Wissenschaftler des Hamburger Gutachten kommen zu dem Ergebnis: Wer in seiner Herkunftssprache lesen und schreiben kann, wird eine zweite Sprache leichter lernen. Wer in seiner eigenen Sprache Zugang zu Geistes- und Naturwissenschaften gefunden hat, dem wird dies auch in einer anderen Sprache besser gelingen.

Auch hier haben die Niederländer die Nase vorn. Sie führten bereits ein zweijähriges Pilotprojekt durch. In 17 Grundschulen wurde der Lehrstoff sowohl auf Türkisch als auch auf Niederländisch präsentiert. Fazit der Studie: Unterricht in der eigenen Sprache fördert die Fertigkeit in der Muttersprache und die wiederum beeinflusst das Erlernen der Zweitsprache positiv.

Doch trotz aller integrativer Maßnahmen haben Migranten auch in den Niederlanden noch immer schlechtere „Bildungskarten“. Eine Studie des niederländischen Bildungsministeriums ergab: Der durchschnittliche Neuankömmling braucht zwei Jahre, um Niederländisch als Umgangssprache zu beherrschen und fünf bis sieben, um das Niveau der Schulsprache zu erreichen. Das würde bedeuten, der Schüler bekommt bis zur siebten Klasse weniger mit als andere.

Ist Vielsprachigkeit also doch eher Hindernis als Hilfe?

Damit Nachteile wirklich zu Vorteilen werden, muss noch viel getan werden. In nächster Zeit wird sich zeigen, ob die Migrantenkinder an der Schule scheitern oder ob es nicht vielmehr umgekehrt ist. Entscheidend ist, wie die Schulen mit der Situation der ausländischen Kinder umgehen.

Seit März 2001 können 45 BerlinerInnen türkischer Herkunft ihre Herkunftssprache als Chance verstehen. Die türkische Sprache gilt als Einstiegsbedingung in ein Qualifizierungsprogramm des Berliner Arbeitsamtes. In Zusammenarbeit mit dem Türkischen Bund und der Gesellschaft für berufliche Bildung sollen die Teilnehmer des Programms zu OfficemanagerInnen und BauwerkerInnen ausgebildet werden. „Wir sehen die Türkischkenntnisse der Teilnehmer als eine wichtige Ressource an, die für interkulturelle Kompetenz unerlässlich ist“, meint Murat Mermeroglu, Koordinator des Projektes beim Türkischen Bund zu Beginn des Programms. „Sprechen Sie Türkisch?“ wird wohl eine der ersten Fragen sein, die die BewerberInnen bejahen müssen. JULIA WESSELOH

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