Offensive in Afghanistan: Taliban umzingeln Kabul
Seit dem Abzug internationaler Truppen haben die radikalislamischen Taliban etliche Provinzen eingenommen. Nun stehen sie 35 Kilometer vor Kabul.
Landesweit setzten sich die Kämpfe zwischen den Taliban und Regierungstruppen in mindestens fünf Provinzen fort. Auch in Masar-i-Scharif, wo die Bundeswehr noch bis Juni ihr Hauptquartier hatte. Die Stadt ist das wirtschaftliche Zentrum der Region im Norden und ein klares Ziel der Islamisten. Der berüchtigte Kriegsherr Abdul Raschid Dostum hatte dort zuletzt seine Milizen versammelt.
Nach dem Fall der zweit- und die drittgrößten Stadt des Landes ist Kabul de facto die letzte Bastion der Regierungstruppen, die anderswo kaum oder gar keinen Widerstand leisteten.
Der afghanische Präsident Aschraf Ghani kündigte derweil eine „Remobilisierung“ der Streitkräfte an. Dies habe „oberste Priorität“, sagte er am Samstag in einer Fernsehansprache. Zudem liefen „Beratungen“ mit politischen Verantwortungsträgern und internationalen Partnern über eine politische Lösung, um dem Land „Frieden und Stabilität“ zu sichern, versicherte der Präsident.
Taliban seit Truppenabzug auf Vormarsch
Seit Beginn des vollständigen Abzugs der Nato-Truppen aus Afghanistan im Mai haben die Taliban weite Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Seit Freitag vergangener Woche nahmen die Islamisten rund die Hälfte der 34 afghanischen Provinzhauptstädte ein, darunter zuletzt auch die zweitgrößte Stadt Kandahar.
Deutschland und andere Länder wie Großbritannien und Spanien kündigten am Freitag die Ausreise von Botschaftspersonal an. Die USA sagten das Ausfliegen tausender Menschen täglich zu und veranlassten die Zerstörung sensiblen Materials in ihrer Botschaft in Kabul.
Aus Washington hieß es dennoch, Kabul befinde „sich im Moment nicht in einer unmittelbaren Bedrohungslage“. Ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums räumte jedoch ein, dass „die Taliban-Kämpfer versuchen, die Stadt zu isolieren“.
In Online-Netzwerken waren zahlreiche Fotos und Videos zu sehen, in denen Kämpfer der Islamisten mit erbeutetem Kriegsmaterial posierten. Den Aufständischen fielen demnach zahlreiche gepanzerte Fahrzeuge, schwere Waffen und andere hochwertige Ausrüstung in die Hände.
Kritik von Ex-Außenminister Spanta
Der frühere afghanische Außenminister, Rangin Spanta, hat den kurzfristigen Abzug der internationalen Truppen aus seinem Land scharf kritisiert. „Der Abzug geschah sehr plötzlich, über Nacht, überstürzt“, sagte Spanta am Samstag im Deutschlandfunk. Die Bevölkerung sei vor vollendete Tatsachen gestellt worden und sitze nun in einer Falle.
Er habe erhebliche Zweifel, dass man ein Land mit Hilfe des Auslands demokratisier könne, ohne die inneren Dynamiken des Landes adäquat zu berücksichtigen, sagte Spanta. Die militärische Präsenz sei beim internationalen Einsatz in Afghanistan überbetont worden, ohne die Ursachen für den Terrorismus zu bekämpfen. Man habe auch nicht den Staatsaufbau oder die Entwicklungspolitik in den Vordergrund gestellt. Stattdessen sei die afghanische Bevölkerung permanent bombardiert worden.
Einige Errungenschaften beispielsweise im Bildungssektor, bei den Frauenrechten und der Pressefreiheit habe die ausländische Intervention über 20 Jahre lang gebracht, erläuterte der frühere Außenminister. „Das wird jetzt zum großen Teil wieder verloren.“
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