Odessa am Wahlsonntag: „Ich wähle Julia“
Am Tag der Präsidentschaftswahl in der Ukraine ist die Bevölkerung Odessas gespalten. Oberflächlich ist es ruhig, aber die Stimmung ist gereizt.
ODESSA taz | „Dona nobis pacem“ singt der Kirchenchor der lutherischen Gemeinde in der Luteranskaja-Straße von Odessa. Anschließend betet der Pfarrer ein Friedensgebet, dankt Gott für seine Unterstützung beim interreligiösen Gebet und bittet Gott um ein friedliches Zusammenleben aller Menschen mit unterschiedlichen politischen Positionen. Die Gemeinde, die sich vor allem aus deutschstämmigen Ukrainern des Gebietes Odessa zusammensetzt, betet und singt andächtig mit. Was der Pfarrer betet ist sehr aktuell für jeden Gläubigen.
Direkt gegenüber der evangelischen Kirche ist ein Wahllokal. Hier herrscht zwar kein Gedränge, aber regelmäßiger Betrieb. Zehn Polizisten stehen, zum Teil rauchend, vor dem Wahllokal. Schwierigkeiten erwarten sie an diesem Tag keine. Zumindest nicht in den Wahllokalen. Es sind über 200 Menschen, die jede Stunde dieses Vormittags das Wahllokal betreten, um ihre Stimme abzugeben. Unter ihnen auch viele der lutherischen Kirchgänger.
„Nun ja“, sagt eine Frau. „Ich habe mich entschieden, Poroschenko meine Stimme zu geben. Der Mann weckt in mir Vertrauen. Meine Schwester ist in seiner Firma beschäftigt, und sie ist sehr angetan vom Arbeitsklima dort. Ich denke, wenn Poroschenko den Staat so führen wird wie seine Firma, haben wir nichts zu befürchten.“ Sie kauft Poroschenko ab, dass er ehrlich ist, tatsächlich die Korruption bekämpfe und Odessa von den Banditen befreien werde, wie er auf seinen Wahlplakaten angekündigt hatte.
Auch wer nicht in der Kirche war, ist sonntäglich angezogen. Wer zur Wahl geht, hat sich in Schale geworfen. Einige hundert Meter weiter, ebenfalls in der Nowoselskaja-Straße, das gleiche Bild: ein Dutzend Polizisten, zwei ukrainische Fahnen, zwei Fahnen der Stadt Odessa, ein Hinweisschild zum Wahllokal und im Durchschnitt jede Minute ein oder zwei Wähler, die ihre Stimme abgeben wollen.
Poroschenko und die Schokolade
Auch im Institut für „Food Technology“ ist die Stimmung unaufgeregt. Zwanzig Personen warten geduldig, bis sie an die Reihe kommen, keine Spur von politischen Emotionen. „Ich wähle Julia“, meint ein Rentner. „Die Frau ist Profi, weiß sich durchzusetzen und kann sicherlich auch mit Putin gut verhandeln. Poroschenko ist zwar nett, aber er sollte lieber weiter bei seiner Schokolade bleiben. Ich glaube nicht, dass er unserem Land irgendetwas gutes tun kann.“
Ganz anders das Bild vor dem Haus der Gewerkschaften, hundert Meter vom Bahnhof entfernt. Hier hatten am 2. Mai mehrere Dutzend Aktivisten der Anti-Maidan-Bewegung offiziellen Angaben zufolge bei einem Brand in dem Haus ihr Leben verloren, in das sie vor Pro-Maidan-Demonstranten geflüchtet waren. Aktivisten der Anti-Maidan-Bewegung sprechen gar von zweihundert Toten.
Ein Meer von Blumen und Photos der Aktivisten, die am 2. Mai hier starben, erinnert direkt am Eingang an die Toten. Das Gebäude ist hermetisch abgeriegelt. Und trotzdem muss es betreten worden sein. Auf einigen Fenstersimsen liegen Blumen, vom Dach weht eine rote Fahne mit Hammer und Sichel.
Zweihundert Menschen, mit Sankt-Georgs-Bändchen, Aufklebern „Der Faschismus kommt nicht durch“ und Plakaten „Wir boykottieren diese Wahl“, haben sich um 14 Uhr vor dem Gewerkschaftshaus versammelt. Es ist eine seltsame Mischung aus Sowjetunion-Nostalgikern und orthodoxen Christen mit religiöser Symbolik und zwei Ikonen, die liebevoll neben einem Photo eines getöteten Anti-Maidan-Aktivisten aufgestellt sind.
Regelmäßiges Gedenken
Seit den Todesfällen harren hier regelmäßig einige Aktivisten der Anti-Maidan-Bewegung aus. Am Wahlsonntag waren es nachmittags über zweihundert Menschen. „Der 2. Mai 2014 war für mich so wie der 30. Januar 1933“, erklärt ein Mann mit Sankt-Georgs-Bändchen am Revers den Journalisten. „Wie sollte ich nach diesen Ereignissen noch an dieser Farce von Präsidentschaftswahl teilnehmen“, fragt er wütend.
„Ich glaube nicht, dass diese Wahlen irgendetwas verändern. Im Gegenteil, sie verschärfen die Lage noch weiter. Besser wäre es, ein Referendum zu organisieren, über die Einführung eines föderativen Staates“, meint die pensionierte Lehrerin Lidia, die aus einem Vorort der Hafenstadt kommt. Ihr ganzer Stolz ist ihre Tochter, die es geschafft hat, in Russland in der Stadt Rostow-am-Don eine Stelle als Ärztin zu bekommen.
Oberflächlich scheinen die Wahlen am Sonntag in Odessa ganz im Sinne der Kiewer Machthaber abgelaufen zu sein. Seit dem 2. Mai wurden alle politischen Demonstrationen abgesagt. Aber es gärt unter der Oberfläche die Stimmung ist gereizt. Es ist nicht auszuschließen, dass diejenigen, die geduldig jeden Tag vor dem Gewerkschaftshaus der Toten gedenken, langsam zahlreicher werden.
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