Obdachlosencamp in Berlin: Einfach eiskalt abgeräumt
Die Evakuierung des Camps an der Rummelsburger Bucht wurde mit Kälteschutz begründet. Papiere belegen nun, dass der Eigentümer die Räumung wollte.
Schon während der Räumung des Camps am 5. Februar 2021 hatten Kritiker*innen vermutet, der damals postulierte Kälteschutz für die BewohnerInnen wäre nur ein Vorwand, um zu räumen und den Weg für das umstrittene Aquarium Coral World frei zu machen.
Lange war unklar, welche Rolle die Coral World Berlin GmbH (CWB), die Eigentümerin des Geländes, bei der Räumung gespielt hat. Nun wirft der Schriftverkehr zwischen Coral World und dem zuständigen Bezirksamt Lichtenberg, der der taz exklusiv vorliegt, Licht auf die Ereignisse. Denn darin fordert eine Vertreterin von Coral World in einer Mail vom 15. Januar das Bezirksamt dazu auf, das Camp bis zum 31. Januar räumen zu lassen. Als Grund nennt sie die anstehenden Bauarbeiten.
Gesichert, nicht geräumt
Andere Eigentümer*innen der im B-Plan ausgewiesenen Grundstücksflächen in der Rummelsburger Bucht haben längst Bauanträge gestellt. Auf dem ehemals vom Wagenplatz Sabotgarden besetzten Grundstück an der Hauptstraße baut die Investa GmbH mit der Groth Gruppe das Luxusprojekt „My Bay Way“, unter anderem 71 Luxusappartements. Der Kaufpreis für eine Dreizimmerwohnung liegt bei 1 Million Euro. Daneben sollen 144 hotelähnliche „Boardinghouse-Appartements“ und Gemeinschaftswohnungen entstehen.
Laut dem „Letter of Intent“ zwischen Senat und Investa von 2019 muss die Eigentümerin 25 Prozent mietpreisgebundene Wohnungen errichten. Nun entstehen nur 11 Wohnungen für maximal 6,50 pro Quadratmeter. Das sind auf das gesamte Projekt bezogen nur knapp 5 Prozent bezahlbarer Wohnraum. (wah)
Der Lichtenberger Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung und Soziales, Kevin Hönicke (SPD), erteilte dieser Forderung zwar eine Absage mit der Begründung, dass er keinen Anlass sehe, die Fläche im Winter und während einer Pandemie räumen zu lassen, insbesondere wenn seitens der Eigentümerin noch gar kein Bauantrag gestellt worden sei.
Doch knapp eine Woche nach der von Coral World Berlin gesetzten Frist erfolgte dann de facto die Räumung. Hönicke bekräftigt allerdings gegenüber der taz, dass der Bezirk nicht an dieser beteiligt war: „Die Eigentümerin wollte uns am Samstagmittag beauftragen, dass wir die Fläche für sie beräumen. Das habe ich klar verneint“, so der Stadtrat. Die Fläche sollte lediglich gesichert, nicht geräumt werden.
Dennoch liegt der Verdacht nahe, dass der Bezirk zumindest einkalkulierte, dass eine Evakuierung des Camps auch eine Räumung zur Folge hätte. So wurden am Tag der Evakuierung sowie am Morgen danach vom Bezirksamt zwei Dokumente vorbereitet, die eine Räumung des Geländes verfügt hätten. Dies bestätigt Hönicke gegenüber der taz. Diese seien aufgrund rechtlicher Bedenken jedoch nie wirksam geworden: „Im Nachgang dazu habe ich mit dem Rechtsamt telefoniert und […] bestätigt, dass es keine Tätigkeiten geben soll, die einer Räumung auch nur gleichzusetzen wären. Daher kamen wir zu der Übereinkunft, keine Verfügung auszufertigen“ erklärt er.
Allerdings schickte er am Morgen nach der Räumung Coral World eine E-Mail, indem er die Eigentümerin dazu aufforderte, nun, da „der Zustand, den Sie haben wollten, hergestellt sei“ und sich keine Menschen mehr auf der Fläche befänden, den Bauantrag zu stellen. Fast schon zwei Jahre ist es her, seitdem die Bezirksverordnetenversammlung Lichtenbergs den umstrittenen Bebauungsplan XVII-4 Ostkreuz unter großen Protesten beschloss. Damit galt auch der Bau der Touristenattraktion Coral World als besiegelt. Doch bis heute hat die Eigentümerin keinen Bauantrag gestellt. Ende Mai läuft die Frist ab, dann könnte der Kaufvertrag vom Senat rückabgewickelt werden.
Ein entsprechender Antragsentwurf wurde bereits am 9. März von der Linksfraktion des Abgeordnetenhauses beschlossen. Statt des Aquariums solle das Land im Falle eines Rückkaufes Platz für Wohnungsbau, Safe Places für Obdachlose und Wagenplätze schaffen, heißt es da.
Warum Coral World also zögert und so ein Scheitern des Projekts riskiert, ist unklar. Diesbezügliche Anfragen der taz ließ Projektmanagerin Gabriela Thöne unbeantwortet, versichert aber knapp: „CWB wird fristgerecht den Bauantrag stellen.“ Dabei schien mit der Räumung des Obdachlosencamps das letzte Hindernis beseitigt zu sein.
Hundertschaften und Hubschrauber
Unter Einsatz von Polizeihundertschaften und Hubschraubern wurden damals in einer nächtlichen Hauruck-Aktion die rund 100 Bewohner*innen aus dem Camp evakuiert. Die Entscheidung für die Räumung wurde erst am Nachmittag desselben Tages getroffen, wie aus der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Abgeordneten Hendrikje Klein (Linke) von Anfang März hervorgeht. Zuvor war lediglich geplant, ein Kältezelt zu errichten.
Offizielle Begründung des Bezirks war, dass für die Bewohner*innen aufgrund der bevorstehenden Minusgrade und Schneefälle akute Lebensgefahr bestünde. Das Aufstellen eines Kältezeltes sei nicht möglich gewesen, heißt es in der Antwort auf die Anfrage. Daher sollten die Bewohner*innen in Notunterkünfte und später in Hostels gebracht werden. Doch wie schon im Jahr zuvor nahm nur ein Teil der Bewohner*innen das Angebot an. Zwei Monate später sind die meisten wieder auf der Straße, berichtet Jess, die zweieinhalb Jahre in ihrem Wohnwagen in dem Camp lebte, gegenüber der taz. Ihren Nachnamen möchte sie lieber nicht in der Zeitung lesen.
Obwohl offiziell nur von einer „Evakuierung“ die Rede war, begannen Bauarbeiter bereits am Morgen nach der Räumung, Teile des Camps zu zerstören. Neben Zelten, in denen sich fast die gesamte Habe der Besitzer*innen befand, wurde auch Jess’ Wohnwagen vollständig von einem Bagger zerstört. „Ich hätte mit einer kostenpflichtigen Abschleppung oder so gerechnet“, berichtet die 30-jährige Agrarwissenschaftsstudentin immer noch sichtlich fassungslos, „aber nicht, dass sie alles zerstören.“
Eigentum zerstört und entsorgt
Noch am Mittag nach der nächtlichen Aktion vereinbarte Bezirksstadtrat Hönicke mit einer Vertreterin der Eigentümerin, die Räumung auszusetzen und den Bewohner*innen zu ermöglichen, noch eine Woche lang ihre Habe zu sichern. Trotzdem wurden danach noch etliche weitere Zelte samt der darin befindlichen Besitztümer zerstört.
Gabriela Thöne erklärt auf Anfrage gewohnt knapp: „Die Vorgaben des Katastrophenschutzes und des Amtsarztes wurden beachtet. Durch die totale Vermüllung gab es keine voneinander abtrennbare Gefahrenquellen.“ Trotz Nachfrage verzichtet Thöne auf eine nähere Erläuterung. Nahe liegt aber, dass Coral World Berlin sich nicht die Mühe machen wollte, zwischen Eigentum der Bewohner*innen und „Müll“ zu unterscheiden, und im Zweifelsfall lieber alles entsorgt hat.
Geschätzt 13.000 Euro an Wert wurden mit ihrem Wohnwagen zerstört, schätzt Jess. In dem Wagen befand sich auch ihr gesamter Hausstand. Nun hofft sie, wenigsten einen Teil davon vom Bezirk entschädigt zu bekommen. Das Bezirksamt prüfe derzeit die Besitzansprüche, teilt Hönicke auf Anfrage mit.
Korrekturhinweis: In einer vorherigen Version wurde ein Zitat von Kevin Hönicke falsch widergegeben.
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