Obdachlose vernetzen sich: Platte, Schmale und Politik
Im niedersächsischen Freistatt fand ein Campf für Wohnungslose statt. Dort trafen sich Obdachlose, um sich politisch zu vernetzen.
FREISTATT taz | Nina K. erzählt. Davon, wie sie religiös wurde und sich deswegen entschloss, auf der Straße zu leben. Sie spricht von ihrem Mann, Lothar, der ein obdachloser Prediger war und mit dem sie betteln ging. Und sie erzählt, wie sie in der Obdachlosigkeit von ihm schwanger wurde, sich deswegen mit ihm eine kleine bürgerliche Existenz aufbaute. Und warum sie ihre zweijährige Tochter Magdalena an der Bahnhofsmission aussetzte, um vor der Organmafia zu fliehen.
K. ist eine von etwa 80 ehemals und aktuell Wohnungslosen, die sich im niedersächsischen Freistatt getroffen haben. Sie zelten auf einer großen Wiese im Nirgendwo der Torfmoore, selbst von Diepholz aus sind es noch dreißig Minuten Busfahrt. Zu dem ersten offiziellen Wohnungslosentreffen seit 25 Jahren kommen Arme aus ganz Deutschland und dem europäischen Ausland. Alle hier litten schon mal unter Armut oder tun es noch. Einige von ihnen verkaufen für gewöhnlich Obdachlosenmagazine, andere betteln an einem zentralen Platz in einer großen deutschen Stadt.
Hier sitzen die TeilnehmerInnen entspannt auf Bierbänken und genießen das Wetter. Es sind über 30 Grad, aber im Schatten eines alten Fachwerkhauses auf dem zentralen Platz des Camps lässt es sich gut aushalten. Auf den ersten Blick ist niemand zu entdecken, der nicht raucht. Es gibt ebenso viele Tätowierte wie Bartträger. Einige sehen wie Trinker aus. Alkohol ist jedoch nicht zu sehen. Es gibt eiskalte Cola und Kaffee – entspannte Urlaubsatmosphäre. Ein paar unangeleinte Hunde laufen herum, im Hintergrund baut Gastro-Personal einen Grill auf.
Es gibt viele Workshops und Freizeitangebote. Nina K. nimmt an der Schreibwerkstatt teil und will für die Freistätter Online Zeitung ein Interview führen. Bald würde sie gerne für die Asphalt schreiben, dem Straßenmagazin, das sie derzeit in Hannover verkauft.
Politische Vernetzung unter Obdachlosen
Hinter der Zusammenkunft der Armen steht die evangelische Stiftung Bethel und das Diakonische Werk Niedersachsen. Es ist ein Modellprojekt, insgesamt soll es drei einwöchige Camps geben. Zwei Folgetreffen in den nächsten beiden Jahren sollen ermöglichen, dass Obdachlose und ehemals Wohnungslose miteinander in Kontakt bleiben. Sie sollen sich politisch vernetzen. Arme haben, abgesehen von Obdachlosenzeitungen kaum eine hörbare Stimme. Das gilt für den Großteil der Armutsbevölkerung. In der Öffentlichkeit sind sie unsichtbar. Sie wissen, was soziale Ausgrenzung im täglichen Leben bedeutet.
Das soll sich ändern. Und zwar von unten. Teilhabe und Selbstorganisation heißen die sozialpädagogischen Zauberwörter. Das Motto des Camps ist eine Songzeile von Ton Steine Scherben: „Alles verändert sich, wenn wir es verändern!“ Für Campteilnehmer gibt es neon-orangene Festivalbändchen und ein Programmheft.
Werner Franke, Armutsnetzwerk
Dort sind die Seminare, offene Gesprächsrunden und Freizeitangebote aufgelistet. Seminarthemen wie zum Beispiel: „Der Kongress der Obdach- und Besitzlosen in Uelzen 1991 und was wir daraus lernen können“ oder „Was ist Sucht und wo beginnt sie?“. Abends gibt es Kultur: Etwa ein Konzert der Tanzmusik-Band „Arrested Amtsbrüder“ und einen Mitsing-Workshop vom „Gospeltrain Wagenfeld“.
Die Wohnungslosen haben das Programm im Vorfeld selbst mitgestaltet. Nina K. hilft bei der Organisation der Andacht. Ein anderer bietet Hartz-IV-Rechtsberatung an – Titel „Angstfrei abharzen“. Das Armutsnetzwerk diskutiert in einer offenen Gesprächsrunde Fragen: „Sommercamp: Wieso, weshalb, warum und wie weiter?“
Das grundsätzliche Problem der Bemühungen: Wer kann sich politische Teilhabe leisten? Die meisten Armen sind damit beschäftigt, genug Geld für den Monat, den Tag oder die nächste Mahlzeit zusammenzukratzen. Ist es unter diesen Bedingungen überhaupt möglich, politische Energie zu entwickeln? Auch das ist eine Frage, die das Modellprojekt beantworten soll.
Nina K. hatte lange Zeit andere Sorgen. Sie ist gerade einmal 34, hat aber schon mehr erlebt als die meisten Steuerbeamten im Rentenalter. Nach ihrem Abi mit Anfang zwanzig litt sie unter leichten Depressionen und fing an, bekifft die Bibel zu lesen. Dabei entwickelte sie Todesangst vor dem Teufel. Sie lernte ihren Nachbarn kennen, einen gläubigen Christ, deutlich älter als sie, und hatte eine Affäre mit ihm. Danach waren sie befreundet, sprachen viel über Gott und machten gemeinsame Fahrradtouren.
Über ihn lernte sie Lothar kennen – damit änderte sich alles: „Er leuchtete und gab mir Wärme. Lothar hatte eine unglaubliche Ausstrahlung. Er hat mir Geborgenheit gegeben, die ich von Zuhause nicht kannte. Er sagte: ‚Du musst hier raus, komm mit mir.‘“ Lothar war freikirchlich orientiert und hatte keinen Wohnsitz. Früher hat er zwei Flaschen Korn am Tag getrunken, der Glaube hat ihm geholfen, mit dem Saufen aufzuhören. Nina K. entschloss sich, mit ihm fortzugehen. Sie lebten auf der Straße. „Wir haben beides gemacht: Platte und Schmale“ – Slang für draußen schlafen und betteln gehen. Heute sagt sie: „Wir waren auf dem Jesus-Trip. Kein Alkohol und keine Drogen.“
Es gibt typischere Wege, um auf der Straße zu landen. Oftmals haben Obdachlosigkeit und Armut vielfältige, individuelle Ursachen: Wohnungsnot, Schulden, Psychische Krankheiten, Drogen. Die meisten Menschen geraten ohne eigenes Verschulden in Armut. Die marktliberale Logik vom Aufstieg nach ganz oben bedeutet eben auch, dass es auf der anderen Seite viele geben muss, die ganz unten sind. Nina K. kommt aus einem normal situierten Elternhaus, hat ihr Abitur mit 2,7 bestanden, hat einige Semester soziale Arbeit studiert und war an der Uni für Politik, Geschichte und Englisch eingeschrieben, als sie in die Obdachlosigkeit ging.
Die Straße gegen Pubertätsdepressionen
Manchmal ist um K.s Mund herum ein leichtes Lächeln zu erkennen, wenn sie von ihrer Zeit auf der Straße spricht: „Der Existenzkampf auf der Straße war das beste Mittel gegen meine Pubertätsdepression. Die Straße hat mir geholfen, meine Faulheit abzuwerfen.“
Es klingt manchmal so, als wäre das Leben auf der Straße schön gewesen. Aber das ist nur ein Teil der Wirklichkeit. K. sieht nicht so aus, als wäre sie je obdachlos gewesen, nur wenn die Sonne ungünstig steht, kann man eine Sorgenfalte zwischen ihren Augenbrauen entdecken.
Die ersten Monate ihrer Schwangerschaft lebte sie mit Lothar auf der Straße. Danach suchten sie sich in Duisburg ein Zuhause. Über Bekannte von Lothar bekamen sie eine Wohnung, lebten von K.s Sozialhilfe, Lothar verkaufte Obdachlosenzeitungen. Sie war zum Zeitpunkt der Geburt von Magdalena 23, er 41. Sie lebten von K.s Elterngeld und hatten ein „ganz normales kleines Leben – bescheiden, aber glücklich“. Zwei Jahre ging das so.
Doch Lothar holte sein Lebensstil ein, vielleicht war es auch der Wahnsinn. Er hat keine Krankenversicherung, aber wird schwer krank. Irgendwann hält er die Schmerzen nicht mehr aus und geht ins Krankenhaus. Nach der Not-OP glaubt Lothar noch anästhetisiert, ein Gespräch von zwei Ärzten zu belauschen: „Die Operation kann er mit einer Niere bezahlen.“
K. sagt: „Ich erinnere mich genau an die Nacht, als wir beschlossen zu fliehen. Als er sagte: Wir müssen uns von Magdalena trennen, fing die Kleine im selben Augenblick im Kinderzimmer zu weinen an und rief nach mir. Als hätte sie gewusst, was passieren würde. Am nächsten Tag stiegen wir in den Zug nach Dortmund und ließen sie am Bahnhof zurück.“ Damals titelte die Bild: „Kind am Düsseldorfer Hauptbahnhof ausgesetzt!“
Heute kann sich K. nur noch schwer erklären, wie sie ihr Kind weggeben konnte. Ein Ansatz: „Ich habe alles gemacht, was er mir gesagt hat und ich hatte Angst. Er hat mich abhängig gemacht. Er hörte die Stimme Gottes, sein Wort war Gesetz. Ich habe gehorcht, er hat meinen Glauben instrumentalisiert. Letztlich war es eine Angstpsychose.“ Nachdem sie Magdalena weggegeben hat, leidet sie. Weint viel. Bleibt traurig. Doch sie leben wieder auf der Straße, machen Platte, machen Schmale.
Irgendwann, als sie unter der Brücke schläft, hört K. die Stimme des Teufels. Er beschimpft sie als „Dreckstück“ und lästert Gott. Nina K. sagt: „Das gilt natürlich alles als Krankheit. Diagnose: Schizophrenie.“
Auf der Straße wurde K. wieder schwanger. Diesmal wird sie in die Psychiatrie eingewiesen. Wegen der Sicherheit des Kindes. Nach der Geburt wird es ihr weggenommen. Lothar stirbt 2007. Nach seinem Tod findet K. heraus, dass sein eigentlicher Name Helmut war. „Er hatte zwei Gesichter“, sagt sie heute.
Werner Franke, 74, Gründungsmitglied des Armutsnetzwerkes in Berlin, hört ihr zu. Er war obdachlos und seitdem er es nicht mehr ist, setzt er sich für Teilhabe und Partizipation der Armen ein. Er sagt: „Wir wollen Menschen eine Stimme geben, die keine haben. Wir wollen sie mit der Politik in Verbindung bringen, um ihnen eine Lobby zu geben.“
Sein Netzwerk hat versucht, am Armutsbericht der Bundesregierung mitzuarbeiten. In Kürze gibt es die Berber-App heraus, ein deutschlandweites Verzeichnis von bislang 3.500 wichtigen Anlaufstellen für Obdachlose: Unterkunft, Essen, Kleidung, Sozialberatung. Und einmal im Jahr hilft Franke bei Frank Zanders Weihnachtsessen für Arme in Berlin mit.
Das Netzwerk ist zu alt
Sein Netzwerk hat ein Problem: Es ist zu alt. Die meisten Mitglieder sind deutlich über 60. Ein Grund, warum Werner Franke hier ist: Er will neue Mitglieder finden. Engagierte junge Menschen mit Armutserfahrung. Ein Mitglied hat er bereits nach zwei Tagen im Camp gefunden: Nina K.
K. hat Frieden mit ihrem Glauben gemacht. Sie hat eine eigene Wohnung, lebt von Grundsicherung. Es ist das Hartz-IV für Hoffnungslose, man muss an keinen Maßnahmen teilnehmen. K. nennt es „Abstellgleis“. Gerne würde sie sich unter Beweis stellen. Das Amt ist jedoch dagegen, will ihr kein Hartz-IV geben. Ihre Fixkosten sind die kleine Wohnung und ein Knebelvertrag bei Vodafon. Für alles andere hat sie 100 Euro im Monat. Braucht sie mehr Geld, verkauft sie Obdachlosen-Zeitungen. Wenn sie einen Bettler sieht, gibt sie fast immer was.
Am Samstag hat Nina K. das erste Mal nach zehn Jahren ihre Tochter Magdalena wiedergesehen. Sie ist jetzt zwölf. Damals ist sie schnell in einer Pflegefamilie untergekommen. Magdalena hat eine kleine Schwester und nennt ihre Pflegeeltern Mama und Papa – sie fühlt sich zugehörig, es geht ihr gut. „Besser, als es ihr mit mir gegangen wäre“, sagt K. Wie das Treffen war? „Das Wichtigste war, dass ich geweint habe. Ich kann ihr das alles nicht erklären.“
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