Nudging anstatt Bildung und Aufklärung: Nur ein kleiner Anstoß
Politiker und Umweltschützer wollen wichtige Alltagsentscheidungen durch Anreize lenken. Kritiker halten dies jedoch für manipulativ.
Wer isst nicht lieber Pommes, um seinen Appetit jetzt zu befriedigen, anstatt mit Salat eine positive Wirkung in der Zukunft zu erzielen? Oder wer fährt nicht lieber schnell mit dem Auto zum Supermarkt, anstatt zu Fuß zu gehen und damit Ressourcen zu sparen? Und wer pfeift nicht manches Mal auf das Händewaschen nach dem Toilettengang, auch wenn er weiß, dass damit Infektionen leichter übertragen werden können?
Alltagsentscheidungen sind komplex und daher fehlerbehaftet, meinen die Verhaltensökonomen Cass Sunstein und Richard Thaler vom Center of Decision Research in Chicago, die seit 2009 verschiedenen Regierungen anraten, auf sogenannte „Nudges“ zu setzen.
Nudging bedeutet so viel wie „sanft anstupsen“. Mit dieser Methode sollen die Menschen weniger Risiken eingehen, bessere Alternativen wählen und damit gesünder und glücklicher sein. Eine Idee etwa in Kantinen: Das vegetarische Menü steht auf einer Speisekarte am Tisch, das fleischhaltige muss erst in einiger Entfernung an der Wand abgelesen werden. Oder bei der Organspende: Nur wer sich aktiv abmeldet, gilt nicht als Spender. Ein „nudge“ ist auch die Energiekennzeichnung auf elektrischen Haushaltsgeräten.
Der Anwendungsbereich ist groß: Energie sparen, gesund essen, stillen, Hände waschen, zu Vorsorgeuntersuchungen gehen, Rauchen aufhören, rechtzeitig die Steuererklärung abgeben, Datenschutz etc. Auch die Bundesregierung hat darum Anfang 2015 eine Arbeitsgruppe „Wirksam regieren“ eingesetzt, die die Möglichkeiten des Nudging ausloten soll.
Diese hat allerdings noch keine vorzeigbaren Ergebnisse. Dagegen ist in Großbritannien das sogenannte „Behavioral Insights Team“ seit einigen Jahren aktiv und kann schon Erfolge bei der Umwelt-, Gesundheits- und Steuerpolitik vorweisen. Und zunehmend entdecken auch Entwicklungshilfeorganisationen die Methode für sich, etwa um Mangelernährung zu lindern oder die Hygiene zu verbessern, indem die Menschen dazu angestupst werden, Toiletten zu benutzen anstatt irgendwo ihre Notdurft zu verrichten.
Besser als Aufklärung?
Denn Nudging funktioniert vermutlich besser als etwa Aufklärungskampagnen. Es spricht nämlich im Gehirn ein System an, das in Entscheidungssituationen schnell und ohne Anstrengung arbeitet. Trotzdem ist noch nicht zweifelsfrei bestätigt, dass Nudging in der Praxis auch effektiv ist.
Dazu gibt es mittlerweile zwar viele, aber widersprüchliche und auch qualitativ schlechte Studien. Das deckte kürzlich eine an der University of Newcastle erschienene Metastudie auf. Die Autoren zeigten zwar, dass Nudges offenbar kurzfristig wirken können, ob sich dadurch aber auch langfristige Verhaltensänderungen erreichen lassen, sei ihrer Ansicht nach jedoch ungewiss.
Doch es gibt auch große Skepsis darüber, wie legitim das Nudging überhaupt ist. Bekanntester Kritiker ist Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, der Thaler und Sunstein Denkfehler vorwirft. Keinesfalls sei es bewiesen, dass rationale Entscheidungen im Alltag quasi unmöglich seien.
„Die ,Libertären Paternalisten' glauben jedoch, dass es zu ihrer Philosophie keine Alternative gibt“, schreibt Gigerenzer in einem Kommentar aus dem vergangenen Jahr.
Erfahrung und Wissen
Seiner Meinung nach gebe es jedoch sehr wohl unbewusste Entscheidungsprozesse, die auf Erfahrung und Wissen aufbauen. Der Berliner Wissenschaftler setzt daher auf Bildung, und zwar bereits in jungen Jahren. „Menschen zu nudgen, ohne sie zu bilden, infantilisiert sie“, so Gigerenzer. Und das ist schlecht, denn solche Menschen fühlen sich dann nicht mehr moralisch für ihre Entscheidungen verantwortlich.
Einige Befürworter argumentieren dagegen, dass der Mensch bereits etwa durch Werbung oder den Freundeskreis ständig manipuliert werde. Die britische Medizinethikerin Muireann Quigley, die derzeit an der Universität in Newcastle lehrt, schreibt etwa in einem Übersichtsartikel aus dem Jahr 2013: „Wir können nicht aus unserer Umgebung fliehen, darum sind unsere gesundheitsbezogenen Entscheidungen auch heute schon geformt und konstruiert.“
Bettina Helversen, Psychologin an der Universität Basel, sagt, dass man diese negativen Einflüsse nicht ignorieren dürfe, erklärt jedoch, warum der Wirtschaft solche Psychotricks verziehen werden, der Politik hingegen nicht: „Bürger vertrauen ihrer gewählten Regierung. Sie wollen von ihr nicht durch intransparente psychologische Strategien auf den von der politischen Führung als richtig angesehenen Weg geführt werden.“ Vor allem, weil nicht immer alle Regierungen wüssten, was für das Individuum oder die Gruppe richtig sei.
Transparenz muss sein
Die Basler Wissenschaftlerin lehnt die Methode nicht ab, hält aber Transparenz für ausschlaggebend. „Der Bürger hat einen Anspruch darauf zu erfahren, welches Verhalten mittels welcher Methode in welche Richtung verändert werden soll.“ So hält sie etwa die Energiekennzeichnung auf Haushaltsgeräten für unproblematisch. Sich bei Organspenden aktiv abmelden zu müssen, sei hingegen ethisch bedenklich.
Während sich Wissenschaftler streiten, haben britische Forscher jeweils rund 1.000 Briten und US-Amerikaner dazu befragt, welche staatlichen Methoden sie konkret zur Reduzierung von Übergewichtsraten akzeptieren würden. Das Ergebnis: Bildung wurde am besten bewertet, während Steuererhöhungen am schlechtesten abschnitten. Nudges wie Reduzierung von Portionsgrößen oder andere Positionierung von Softdrinks in Supermärkten lagen dazwischen.
Als Grund für diese Bewertung wurde vor allem die Frage nach der Effektivität der jeweiligen Methode angegeben. Sollte sich also das „Anstupsen“ auch als langfristig wirksame Möglichkeit herausstellen, so könnte es zumindest in der Bevölkerung akzeptiert werden.
Das und auch mehr Bildung bräuchte Zeit. Doch gerade in Sachen Ressourcenschutz ist Eile angesagt. Forderungen nach mehr Nudging kommen daher immer öfter von Umweltschützern: „Analysen über den ökologischen Zustand unseres Planeten legen nahe, dass eine qualitativ andere Gangart beim nachhaltigen Konsum notwendig ist“, sagt Christian Thorun, Geschäftsführer des Berliner Instituts für Verbraucherpolitik – ConPolicy.
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