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Vor dem Bahnhof der Stadt gedenken die Menschen der 16 Opfer, die vor einem Jahr unter dem zusammenbrechenden Dach gestorben sind Foto: Spasa Dakic/SIPA/picture alliance

Novi SadGeballte Wut unter der Totenstille

Ein Jahr nach dem Tod von 16 Menschen protestieren Menschen in ganz Serbien weiter. Präsident Vučić hat einen neuen Ton angeschlagen. Wie kommt der an?

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Andrej Ivanji aus Novi Sad

E s ist der 1. November, 11.52 Uhr. Eine unübersehbare Menschenmasse steht auf dem Boulevard der Befreiung vor dem Hauptbahnhof von Novi Sad. Auf die Minute genau stürzte vor einem Jahr das Vordach über dem Eingang in das Gebäude und tötete 16 Menschen. Das jüngste Opfer war gerade sechs Jahre alt.

Es herrscht Totenstille. Man hört nur das Summen der Drohnen und das Rasseln der von einer Brise getriebenen, verwelkenden Herbstblätter auf dem Asphalt. Sechzehn Schweigeminuten für sechzehn Opfer. Auch davor und danach ist das große Gelände umhüllt von einer unnatürlichen Geräuschlosigkeit. Nur einmal wird sie zerrissen von der Sirene eines Notwagens – es ist mit 25 Grad im Schatten ungewöhnlich heiß für diese Jahreszeit, eine Person ist ohnmächtig geworden.

Ein roter Luftballon in der Form eines Herzens tanzt verspielt durch den kristallblauen Himmel. Ein Mann mittleren Alters flüstert: „Mein Gott, mein Gott, diese armen Eltern.“ Dann beginnt er zu schluchzen. Auch zwei Journalistinnen, erfahrene Reporterinnen, die in ihrem Beruf schon so einiges gesehen haben, können sich nicht mehr zurückhalten. Sie beginnen zu weinen und fallen sich in die Arme. Der einen zittert die Hand, als sie versucht, sich eine Zigarette anzuzünden.

Novi Sad ist eine verwundete Stadt. Die Last der sechzehn Toten liegt bedrückend auf seinen Einwohnern. Doch hinter der Trauerruhe verbirgt sich geballte Wut. Es ist ein Lechzen nach Gerechtigkeit für ihre Mitmenschen. Für deren Tod ist bisher niemand zur Rechenschaft gezogen worden. Niemand trug bei der Trauerfeier Transparente mit politischen Botschaften, und trotzdem war die Versammlung an sich ein machtvolles politisches Zeichen.

Am „Tatort“ ist weit und breit keine Polizei zu sehen. Nur eine junge Polizistin mit einem Kollegen. Was sie über die Trauerkundgebung meinen? Beide schweigen. Die Frau hat Tränen in den Augen.

Das Regime rächt sich

Schwer beeindruckt von der wohl größten Kundgebung in der Geschichte Novi Sads war auch die Soziologieprofessorin und bekannte Bürgerrechtlerin Marija Vasić. Angeklagt als „Terroristin“ wurde sie mit fünf anderen Mitgliedern der Bürgerbewegung Stav und der Oppositionspartei Bewegung freier Bürger (PSG) in Untersuchungshaft gesteckt. Sie trat in einen Durst- und Hungerstreik, landete im Krankenhaus und darf sich nun aus der Freiheit verteidigen. Juristen halten die Anklage für lächerlich und sprechen von „politischen Häftlingen“. Das Vorgehen sei Rache an politisch gegen die Autokratie engagierten Bürgern.

„Es war eine katharische Erfahrung, mit 100.000 Menschen weinend zusammenzustehen, die das Gleiche fühlen“, sagt Vasić. Doch auch morgen müsse der Kampf gegen das korrupte Regime fortgesetzt werden.

Menschen füllen die Straßen in der Nähe des Bahnhofs am ersten Jahrestag der Bahnhofskatastrophe in Novi Sad, Serbien, 1.11.2025 Foto: Armin Durgut/AP/dpa

Kurz nach der Tragödie hatte sich die größte Protestwelle in der Geschichte Serbiens entfaltet. Ihr treibender Motor sind Studenten. In Novi Sad seien sechzehn Menschen nicht verunglückt, sagen sie, nein, die endemische Korruption habe sie getötet. Die Korruption bedeute: inkompetente Minister, die nur wenige Monate vor dem Einsturz des Vordachs inkompetente Baufirmen mit inkompetenten Mitarbeitenden mit der Renovierung des Bahnhofes beauftragten.

Zuerst forderten sie, dass die Verantwortlichen ausfindig gemacht und bestraft werden. Als nichts Konkretes geschah, verlangten sie nun Neuwahlen. Trotz der tiefen politischen und gesellschaftliche Krise lehnt es Präsident Aleksandar Vučić von der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) bis jetzt hartnäckig ab, diese auszurufen.

Am Freitagabend herrschte in der Stadt eine ganz andere Geräuschkulisse. Tausende Studenten waren tagelang zu Fuß aus allen Teilen Serbiens nach Novi Sad gezogen, um am Gedenktag teilzunehmen. Sie legten hunderte Kilometer ab und schafften es wieder einmal, halb Serbien gegen das Regime auf die Beine zu bringen – wie seit einem Jahr immer wieder.

Mit Jubel, Trommeln, Trillerpfeifen und lauter Musik wurden die erschöpften Marathonfußgänger im Zentrum von Novi Sad empfangen. Die Stimmung war geladen mit starken Gefühlen – ein Ausbruch der bis vor Kurzem unbekannten Solidarität und Einigkeit im Kampf für einen Rechtsstaat.

Man klopfte sich gegenseitig auf die Schultern, umarmte sich, sang miteinander, schwenkte kraftvoll serbische Fahnen. Orthodoxe, Katholiken, Protestanten, Muslime. Es war eine multinationale, multikonfessionelle Demonstration gegen das Regime, das immer wieder versucht, die hetzerische, paranoide, chauvinistische Karte auszuspielen. Doch bei dieser Studentengeneration klappt das einfach nicht – anders als in den 1990er Jahren, als Jugoslawien im blutigen Bürgerkrieg unterging.

Der aktuelle, alles bestimmende Staatspräsident Aleksandar Vučić war damals Generalsekretär der extrem nationalistischen Serbischen radikalen Partei und Informationsminister unter Slobodan Milošević.

Zeichen der Trauer, Novi Sad, am 2.11.2025 Foto: Spasa Dakic/SIPA/picture alliance

„Studenten und Bürger beharren klar auf ihren Forderungen und zeigen, dass die Schonfrist von Vučić abgelaufen ist“, meint der Journalist Nedim Sejdinović aus Novi Sad. „Die Kundgebung bezog sich nicht nur auf den gruseligen Jahrestag, sondern widersprach auch all jenen, die frohlockten oder befürchteten, dass die Energie des Aufstandes abgeflaut sei.“

Im Gegenteil sei der Protesteifer größer denn je. Die jungen Menschen seien im vergangenen Jahr „politisch und medial unglaublich gereift“, findet er. Zugleich habe das Regime Vučić selbst das letzte Körnchen Legitimität verloren. Denn dank der Protestbewegung wisse inzwischen jeder vom „Stimmzettel-Diebstahl und dem Staatsstreich, den der Präsident begangen hat, in dem er die Verfassung brutal verletzt und alle Machthebel unter seine Kontrolle gebracht hat“, sagt Sejdinović.

Eine erstaunliche Rede

Am Tag vor der Gedenkfeier überraschte Vučić sein Volk mit einer für ihn unüblichen Ansprache. Statt wie immer zu toben, die demonstrierenden Studenten als Antiserben zu bezeichnen oder von finsteren, Serben-hassenden Machtzentren im Westen zu reden, die ihn wegen seiner freiheitsliebenden, unbeugsamen Politik entmachten wollten, gab sich der Staatspräsident staatsmännisch und versöhnlich. Er bat um Verzeihung für seine manchmal harschen Worte, streckte den Demonstranten die Hand aus und rief zu Dialog auf.

Die in Novi Sad versammelten Menschen reagieren erbost. „Der kann mich mal“, sagten viele dazu bloß. Eine junge Frau findet, Vučić sei ein pathologischer Lügner. Ihre Freundin betont, dass sie keine theatralischen Entschuldigungen brauchen, sondern Gerechtigkeit für die Familien der 16 getöteten Menschen. Und Marija Vasić sagt schlicht: „Vučić verdient keine Antwort.“

„Wofür hat sich der Staatspräsident eigentlich entschuldigen wollen?“, fragte indes der Philosoph und Redakteur in der Wochenzeitung Vreme, Ivan Milenković. „Weil er die Schläger amnestierte, die einer Studentin den Kiefer gebrochen hatten? Weil er eine Frau begnadigte, die versucht hatte, mit ihrem Auto eine Studentin umzubringen und sie dabei schwer verletzte? Weil er die Bürger dieses Landes als Terroristen, Auslandssöldner und Abschaum beleidigte? Weil er wegen des Systems, das er aufgebaut hat, verantwortlich für den Tod von 16 Menschen ist? Hat er versucht, sich zu entschuldigen, weil er die Republik abschaffte, weil er Gerechtigkeit verachtet, die Wahrheit begraben und sich an die Spitze einer Räuberbande gestellt hat?“

16 Schweigeminuten für 16 Opfer: Die Mutter eines der Opfer, Dijana Hrka, in Nov Sad, Serbien, am 2.11.2025 Foto: Marko Djurica/reuters

Der Mann, der die Gesellschaft zerstörte, rufe nun zur Einigkeit auf. Der Mann, der kein einziges Mal auch nur einen Funken Mitgefühl gezeigt hätte, rede nun von Beileid, fährt Milenković fort. Der Mann, der jeden Tag in seinen propagandistischen Medien die Zähne fletsche, redet jetzt von Sanftmut. Jetzt wolle er, dass wir ihm glauben. Jetzt sollen wir vergessen, was er in den vergangenen 13 Jahren alles getrieben hat. „Das wird nicht passieren“, ist der Philosoph überzeugt.

Das Misstrauen schürt Vermutungen

Wie groß das Misstrauen gegenüber dem Regime ist, zeigte auch die Reaktion der Menschen in Novi Sad, als es am 1. November – angeblich wegen Stromausfall – in der Hälfte der Stadt kein Wasser gab. Ein Kellner im Restaurant des „Veliki Hotel“ (Großes Hotel) sagte im Brustton der Überzeugung: „Ausgerechnet am Jahrestag der Tragödie, wenn Zehntausende Menschen nach Novi Sad kommen, drehen sie das Wasser ab, um uns zu quälen.“ Er war mitnichten der Einzige, der das Ereignis so deutete.

Ähnliche Erklärungen kursieren, wenn kurz vor Protesten plötzlich Bombendrohungen in Zügen aufkommen. Ob diese Vermutungen der Regimekritiker stimmen, ist bisher nicht belegt, dass sie aufkommen, jedoch wenig verwunderlich.

Nicht einmal zwei Monate sind vergangen, seit einem Ausbruch nackter Polizeigewalt in Novi Sad. Am 5. September ereignete sich einer von vielen Protesten, doch diesmal erhielt die Polizei den Befehl, sich nicht zu zügeln. Sondereinheiten schlugen alles kurz und klein, gepanzerte Geländewagen der Polizei schossen durch die Stadt, die buchstäblich in Tränengas erstickte.

Die Polizei drang in eine Fakultät ein, verhaftete massenhaft Menschen, darunter sogar eine Journalistin, der auch ihre gelbe Weste, auf der sichtbar „Press“ stand, nichts half. Viele Einwohner von Novi Sad sind der Meinung, dass das eine Rache von Vučić gewesen sei, weil sie sich so entschlossen gegen seine Herrschaft auflehnen.

Am 1. November befürchteten viele Menschen, dass das Regime die Demonstration erneut niederschlagen würde. Eltern hatten riesige Angst um ihre Kinder. Gerüchte verbreiteten sich, die Sturmabteilung von Vučićs Partei SNS würde bei Einbruch der Dunkelheit wieder auf die Demonstranten losgehen. Schon oft waren diese hauptsächlich aus Kriminellen zusammengestellten Schlägertrupps im Einsatz, eine Art paramilitärische Leibgarde des Präsidenten.

Und trotzdem waren am Samstag so viele Menschen auf den Straßen der Hauptstadt der Vojvodina. Serbische Bürger haben es in dem vergangen, von Massenprotesten gekennzeichneten Jahr, gelernt, ihre Angst zu überwinden. Und das ist das Schlimmste, was einem Autokraten geschehen kann.

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