: Notstand in Großbritannien
Britisches Innenministerium erklärt nationalen Notstand und suspendiert Teile der Europäischen Menschenrechtskonvention, um drakonische Gesetze gegen mutmaßliche Terroristen ins Parlament einbringen zu können. Kernpunkt: Haft ohne Anklage
von RALF SOTSCHECK
Menschenrechte oder Sicherheit – beides geht nach Meinung des britischen Innenministers David Blunkett nicht. Er will heute ein umfangreiches Paket von Notstandsgesetzen vorlegen, das bis Ende der Woche durch das Unterhaus gepeitscht werden soll. Wenn das Oberhaus mitspielt, sollen die Gesetze noch vor den parlamentarischen Weihnachtsferien in Kraft treten.
Als ersten Schritt rief Blunkett gestern den nationalen Notstand aus. Heute soll Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention aufgehoben werden. Er verbietet Inhaftierung ohne Anklage. Es wäre nicht das erste Mal, dass Internierungen eingeführt werden: Jedes Mal, wenn Großbritannien in den Krieg zieht, ist das eine der ersten Maßnahmen. In Nordirland, wo das lange Zeit gemacht wurde, erklärte ein Sprecher der britischen Armee 1971 nach der ersten Internierungswelle, dass die Irisch-Republikanische Armee (IRA) „praktisch besiegt“ sei. 20 Jahre später sprach Labours Nordirlandsprecher Kevin McNamara vom „größten politischen Irrtum einer britischen Regierung“.
Blunkett bestritt gestern, dass es sich bei seinen Notstandsmaßnahmen um Internierungen handle. Niemand werde ohne Gerichtsverfahren eingesperrt, sagte er. Der Prozess soll den Verdächtigen allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor einem einzigen Richter ohne Geschworene gemacht werden.
Auch das hat es in Nordirland bereits gegeben. Die „Diplock-Gerichte“ urteilten ab 1973 mutmaßliche IRA-Mitglieder am Fließband ab. Freisprüche gab es so gut wie nie, Fehlurteile dafür umso häufiger. „Wir können kein öffentliches Verfahren anstrengen“, sagte Blunkett, „weil die vorgelegten Beweise solcher Art sind, dass sie unserer Politik und unserer Sicherheit schaden.“
„Wir können in einer libertären Welt voller Luftschlösser leben“, sagte Blunkett, „in der jeder tut, was er mag, und in der wir nur das Beste von jedem glauben, und dann zerstören sie uns.“ Es gehe ja nur um ein paar Dutzend Menschen, sagte er – vor allem um des Terrorismus verdächtige Afghanen und Iraker, die so lange festgehalten werden sollen, bis ein Drittland sie aufnimmt oder sie den Innenminister von ihrer Harmlosigkeit überzeugen können.
Die Bürgerrechtsorganisation Liberty will dagegen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagen. Liberty-Direktor John Wadham wies darauf hin, dass kein anderes EU-Land es für nötig hält, Teile der Menschenrechtskonvention außer Kraft zu setzen. Großbritannien habe ohnehin die drakonischsten Anti-Terror-Gesetze. „Die Situation erfordert nicht diesen Angriff auf ein historisches Grundprinzip der britischen Rechtsprechung“, sagte Wadham.
Blunketts Notstandspaket sieht außerdem vor, dass der Innenminister künftig Asylgesuche ablehnen kann, wenn er glaubt, dass die Antragsteller Verbindungen zu Terroristen haben. Eine Einspruchsmöglichkeit gegen seine Entscheidung will Blunkett ausschließen. Darüber hinaus will er Menschen härter bestrafen, die Terroristen ausbilden, mit ihnen kommunizieren, ihnen Waren verkaufen oder ihnen Dienstleistungen anbieten.
Gestern traten außerdem Gesetze zur Kontrolle der Wechselstuben in Kraft. Sie benötigen ab sofort eine Lizenz und müssen ihre Bücher offenlegen. „Das Ziel ist klar“, sagte der schwarze Innenstaatssekretär Paul Boateng. „Wir wollen den Terroristen die Gelder entziehen, von denen sie abhängen.“ Seit den Anschlägen vom 11. September sind sechs Wechselstuben durchsucht worden, 16 Menschen wurden verhaftet. Sie sollen insgesamt 120 Millionen Pfund Drogengelder gewaschen haben.
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