Notizen aus der Bildungsrepublik: Wenn Fritzchen nicht aufs Schulklo geht
Angela Merkel sagt: "Wohlstand für alle heißt Bildung für alle." In der Bruno-Bürgel-Schule stürzt die Umkleide bald ein und der Oberschulrat macht ein Quiz. Notizen aus der Bildungsrepublik.
Wir müssen die Bildungsrepublik Deutschland werden. Das ist es, was unsere Zukunft für die nächsten Jahrzehnte sichert. Jedes Kind braucht die beste Förderung. (…) Oder noch klarer: Wohlstand für alle heißt heute Bildung für alle. Angela Merkel, Juni 2008
Wenn der zehnjährige Fritz ein Bedürfnis hat, dann geht es ihm wie manchem anderen kleinen Jungen. Er hat keine Lust, gleich Pipi zu machen. Nur hat das Zögern bei Fritz ganz andere Ursachen, als noch etwas fertig besprechen oder spielen zu wollen. "Ich gehe nicht zu den Toiletten auf unserer Schule, weil die unglaublich schmutzig sind", sagt der kleine Kerl.
Fritz besucht die Babelsberger Bruno-H.-Bürgel-Grundschule. 360 Schüler lernen dort, um sich auf weiterführende Einrichtungen vorzubereiten. Als Toilette steht ihnen eine schmuddelige Baracke auf dem Hof zur Verfügung. Es gibt auch noch neue Toiletten und Duschen, sie gehören zur Turnhalle. Aber auch dort gehen die Kinder nicht hin. Dazu müssten sie nämlich durch eine einsturzgefährdete Umkleide. Stahlstützen sichern die Decke - seit zwei Jahren.
Die Bruno-H.-Bürgel-Schule ist so etwas wie eine Miniatur des Bildungssystems. 1907 als Gemeindeschule 1 eröffnet, galt sie als eine der modernsten Bildungsstätten ihrer Zeit. Die Fassade wurde für das 100-jährige Jubiläum vergangenes Jahr mehrfach herausgeputzt. Von außen merkt man ihm den Glanz der alten Tage an. Drinnen aber ist etwas faul. Die Mensa ist eine Baracke, die man noch zu DDR-Zeiten an ein Fachwerkhaus geklebt hat. In dem modrigen Flachbau haben gerade mal 60 Kinder Platz. 210 Hortkinder aber wollen hier täglich essen.
"Es wird darum gebeten, menschenwürdige Zustände herzustellen", lautete das Urteil, als die offizielle Schulvisitation kürzlich die Bürgel-Schule begutachtete. Ursula Fiess, die Gesamtelternsprecherin, will niemanden aufwiegeln, wie sie sagt. "Aber ich finde diesen Zustand fragwürdig im 21. Jahrhundert. Wir sind schon im vergangenen Jahrhundert auf den Mond geflogen - und bei uns an der Schule schaffen wir es nicht mal, die Toiletten zu reparieren."
***
Ein feiner Mann. Seit zwei Tagen folgt er den bisweilen ungelenken Ausführungen der versammelten Pädagogen, Professoren und Ministerialbeamten. Auf Schloss Reckahn haben sie sich eingefunden, um die Krise des Bildungssystems zu diskutieren. Der Herr hört schweigend zu, hin und wieder macht er sich Notizen. Dann beäugen ihn die Teilnehmer der 3. Reckahner Bildungsgespräche. Denn er ist nicht nur Jurist, sondern auch Schriftsteller. Und er soll ihnen am Ende der Tagung die Leviten lesen, der Vorleser Bernhard Schlink. "Die Schule", sagt er, als er dran ist, "muss die Schüler auch auf die Ungerechtigkeit vorbereiten."
Manch einer im Publikum empfindet diese Bemerkung als ungerecht. Die Erziehungswissenschaftler sind beleidigt, dass der Schriftsteller ihre Zunft nicht verstanden hat. Zugegeben, keiner hat so schön formuliert wie er. Aber die Zahlen, die Belege, die Nachweise, welche die Pädagogen ins Feld führen, um die deutsche Bildungsarmut zu illustrieren, waren an Quantität doch kaum zu überbieten!
Acht Prozent der Schüler verlassen ohne Abschluss die Schule. 21 Prozent der 15-Jährigen können nicht richtig lesen. 400.000 Schüler stecken in einem Sonderschulwesen fest, das in acht von zehn Fällen keinen Abschluss vergibt. Und der gerade neu herausgegebene Nationale Bildungsbericht zeigt: 28 Prozent der 20- bis 25-jährigen Deutschen besitzt weder einen Gesellenbrief noch den Abschluss einer Sekundar-II-Stufe. Ein Drittel ist also ohne Anschluss. "Im letzten Jahrzehnt haben wir zu vielen Jugendlichen nicht ermöglicht, ins Berufsleben einzubiegen", sagt dazu Martin Baethge, einer der Autoren des Berichts. "Wir organisieren für diese Klientel eher Abbrüche als Anschlüsse."
Und dann kommt dieser elegante große Bernhard Schlink, der es als erster Deutscher an die Spitze der Bestsellerliste der New York Times geschafft hat, und warnt. Er warnt davor, Gerechtigkeit durch eine Ver-ge-rechtlichung des Schulwesens erreichen zu wollen. Als Beispiel dient ihm die hübsche Anekdote, dass sein Englischlehrer einst zu ihm sagte: "Schlink, solange du dich in Sport nicht anstrengst, bekommst du auch keine Zwei in Englisch."
***
Essen, 13. Kinder- und Jugendhilfetag. Wenn das Schulwesen in Deutschland ein quasi-staatliches Monopol darstellt, so ist die Jugendhilfe das gesellschaftliche Pendant dazu. In den Essener Messehallen des Grugaparks hat sich die kommunale und kirchliche Wohlfahrtsindustrie versammelt. Hunderte von Ausstellern führen die neuesten Gimmicks der frühkindlichen (Hirn-)Förderung vor, zeigen, was die Deutsche Pfadfinderschaft an demokratischer Beteiligung bietet, wie man das schwule Outing bei Jugendlichen behutsam in die Wege leiten kann.
"Gerechtes Aufwachsen ermöglichen", heißt das Motto. Mit Ausrufungszeichen! Schirmherr ist unter anderen der evangelische Bischof Wolfgang Huber. "Wer aber über Kinder redet", predigt Huber, "der muss die Frage nach der Gerechtigkeit auch auf sie hin stellen."
In Essen wird die ganze große Kugel gerollt. Ist die Menschenwürde in den Bildungseinrichtungen überhaupt gewahrt? Nichts weniger als das will ein Podium herausfinden. Ein Menschenrecht auf Bildung muss her! Kleiner ist die Antwort nicht zu haben. Der Bildungsbegriff sei heute zu sehr auf die Ausbeutung der Humanressourcen und die Verwertbarkeit des Einzelnen bezogen, wird geklagt. Am Beispiel des sogenannten Übergangssystems dräut dem Publikum freilich ein brutaler Gedanke: Könnte es sein, dass das Übergangssystem, in dem rund 350.000 Jugendliche feststecken, in Wahrheit gar kein Übergangssystem ist, sondern ein Abstellgleis?
Das Übergangssystem kennt kaum jemand. Es ist ein Durcheinander von Warteschleifen, berufsvorbereitenden Lehrgängen und Maßnahmen nach den Sozialgesetzbüchern 2 und 3. Ausgebeutet wird in diesem Container für schulmüde, abschlusslose und irrlichternde Jugendliche weiß Gott niemand. Hier wird kein Nachschub für die Industrie qualifiziert, sondern eine Reservearmee für die Arbeitslosigkeit. Alles gibt es, Mitleid, Anregung, Ermunterung - nur keine Abschlüsse für die Jugendlichen, die sich dorthin verlaufen. Da meldet sich in Essen ein empörter junger Mann aus Bayern zu Wort. Das Berufsgrundbildungsjahr, das er kenne und mitorganisiere, sei eine echte Hilfe für die Jugendlichen! Viele schafften von dort den Sprung in eine Lehre, ruft er.
Christian Lüders kommt gleichfalls aus Bayern. "Ich", sagt er, "ich verstehe dieses Übergangssystem nicht." Das ist nicht gut. Denn Lüders Arbeitgeber, das Deutsche Jugendinstitut in München, hat in unzähligen Studien den schwierigen Übergang von der Schule in den Beruf untersucht und dabei vor allem die Risikoklientel befragt, beobachtet und analysiert: Schulabbrecher, Hauptschüler mit schlechten Noten, Migrantenjungs. Wenn irgendjemand in Deutschland das Übergangssystem verstehen sollte, dann Lüders.
"Wir haben den Jugendlichen systematisch das Gefühl ausgetrieben, dass sie etwas verändern oder bewegen können", sagt Lüders. Einer bestimmten Klientel werde in der Schule Folgendes vermittelt: "Eigentlich kannst du gar nichts, und was wir mit dir in Zukunft anstellen, das wissen wir auch nicht." Als er gefragt wird, was man denn, um Himmels willen, tun könnte, sagt Lüders: "Alles - um erlebte Ohnmacht zu verhindern!" Es sind genau diese Jugendlichen, die kaum lesen und schreiben können, die in ein System geschickt werden, was auch der Abteilungsleiter Dr. Lüders vom Deutschen Jugendinstitut nicht versteht.
***
Die Aula brodelt. "Ich zahle Steuern", tobt einer, "da kann ich erwarten, dass ich dafür ein gutes Bildungssystem bekomme." Vorn, auf dem Podium, rutscht ein Staatssekretär unruhig auf seinem Stuhl. Hinten meldet sich Ursula Fiess und berichtet aus der viel zu feuchten und viel zu kleinen schimmeligen Mensa ihrer Bürgel-Grundschule. "Es gibt Kinder, die bei uns im Stehen essen müssen."
Das groteske Beispiel der Babelsberger Schule jazzt die Stimmung noch mal richtig hoch. Podiumsdiskussion im Potsdamer Helmholtz-Gymnasium. Hier versammelt sich die Potsdamer Hautevolee, jene, die im Gefolge der neuen Paradepotsdamer Günther Jauch und Nadja Auermann selbstbewusstes Bürgertum darstellen.
Staatssekretär Burkard Jungkamp (SPD) muss sich erst mal nicht einmischen. Im Publikum sitzt der Herr Oberschulrat Ulrich Rosenau. "Ich möchte ihnen eine kleine Frage stellen", ruft der Leiter des Brandenburger Schulamts. Und dann möchte er der brodelnden Bürgeraula ein kleines Ratequiz aufdrängen. "Was glauben Sie, wie viele Schulräte …". Der Staatssekretär wird wieder nervös. Er weiß: So blasiert kann man der Potsdamer Bourgeoisie nicht kommen.
Zwei Elterninitiativen gibt es hier, die gegen Unterrichtsausfall anrennen. Anwälte, Publizisten, Unternehmensberater, Bundestagsabgeordnete, die ihre Kinder in die staatliche Schule geben. Noch. Aber in jedem Satz, den sie sagen, schwingt die Drohung mit: Wenn ihr nicht mitspielt, dann holen wir unsere Kinder da raus. Was in Potsdam tatsächlich eine Drohung ist - 20 Prozent der Schüler besuchen hier schon jetzt Privatschulen.
***
Auf dem Podium sitzt ein Mann in Nadelstreifenanzug. Aus seinem Dreiteiler wölbt sich eine weiße Seidenkrawatte, gestützt von einer glänzenden Nadel. Ulrich Kreutzahler ist kein Manager, sondern Rektor einer Grundschule in Niedersachsen. Er begeistert die Menschen, er spricht über guten Unterricht und darüber, dass man alle Kinder in der Grundschule gemeinsam unterrichten kann - behinderte und andere Kinder.
Und als er den Streit zwischen selbstbewussten Bürgern und Schulbeamten mitbekommt, mahnt er zu Einfühlsamkeit. "Sie fragen, wie Sie als Eltern mit einem störrischen Schulrat umgehen sollen. Machen Sie es wie mit einem Schüler, der nicht gleich alles versteht. Loben Sie ihn, bestärken Sie ihn. Er wird es das nächste Mal besser machen."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen