■ Normalzeit: Graue versus ethnische Zellen
In der Fürbringerstraße laufen zwei Jungtürken, ein bärtiger Alternativer brüllt: „Ihr Schweine, wenn ich euch erwische!“ Ein Typ mit Basecap bleibt hinter ihm stehen und ruft den Füchtenden nach: „Geht bloß da hin, wo ihr hergekommen seid!“ Der anscheinend Bestohlene dreht sich zu ihm um und sagt: „Du spinnst wohl!“
Da haben wir wie in einer Nußschale, was derzeit die Grünen und Sozialarbeiter des „Problembezirks“ umtreibt. Erst klagten sie öffentlich im „Kotti“ über die Türkenjugend – unter der Überschrift: „Warum wir (nicht mehr) in Kreuzberg leben wollen“. Dazu zirkulierte eine „Analyse“ des „Kreuzberger Projekteplenums der Kinder- und Jugendarbeit“, in der die Entwicklung „zum Slum“ und die akute Gefährdung der „Kreuzberger Mischung“ mit dem Zerfall der türkischen Familien und dem dadurch zunehmenden Fundamentalismus unter den Jungtürken der dritten Generation erklärt wurde. Die altdeutsche Frankfurter Allgemeine (FAZ), schon immer allem Multikulturellen abhold, widmete diesem „Topereignis“ sogleich einen nachdenklichen Riesenriemen: „SOS 36“ betitelt. Exakt zehn Jahre zuvor geißelten die Kreuzberger Grünen bereits die zunehmende „Gewalt“ im Kiez – und drohten mit Wegzug! Dafür machten sie jedoch 1988 noch die „autonomen Haßkappen“ verantwortlich. Die grünen Analytiker Volker Färtig und Karl Schlögel zogen dann auch tatsächlich weg: der eine als SPD-Immobilienentwickler nach Potsdam und der andere als FAZ- Professor nach Konstanz. Aber zehn Jahre davor, 1978, hatten die Alternativis bereits die Schwarzköppe im Visier gehabt: „Türken raus – warum nicht, wenn es dem Kiez hilft!“ schrieb ein Szeneblatt den „behutsamen Stadterneuerern“ hinterher.
Nachdem die Autonomen entweder in die Ostbezirke oder nach Hause, ins Rheinland, abgedrängt wurden, muß nun erneut die gewaltbereite Jugend aus Anatolien – freilich jetzt in der „dritten Generation“ – herhalten. Klammheimlich wird bereits der Schönbohmschen „Zero Tolerance“-Politik („Mehr Grün auf die Straße!“) Beifall gezollt. In der Kreuzberger Alten Feuerwache machte die Turnschuhpartei dieses Dauerproblem neulich sogar zum Wahlkampfthema. Wobei einige Referenten immerhin auf die „Rahmenbedingungen“ (so heißt der Kapitalismus bei den Grünen) zu sprechen kamen: Von 1987 bis 1997 stieg die Arbeitslosigkeit von 17 auf 37 Prozent in Kreuzberg, die Jugendarbeitslosigkeit wird im Jahr 2000 sogar albanische 60 Prozent erreichen. Der Bezirk hat die meisten Sozialhilfeempfänger: jeder fünfte Haushalt hat unter 1.000 Mark monatlich zur Verfügung, dennoch hat der Bezirk ein höheres Steueraufkommen als Zehlendorf.
Aber nicht die Reichen dort bedrohen den „inneren Frieden“, sondern die „türkischen Jugendlichen“ hier! Dazu erklärte mir eine Studentin: Wenn sie abends nach Hause komme, und es stünden im Dunkeln drei Türken vor ihr, dann habe sie „einfach Angst“. Sie wolle die Wohnung jedoch wegen der billigen Miete unbedingt halten. Deswegen sei auch sie für „mehr Sicherheit“. Selbst an der Freien Universität (FU) werde es immer schlimmer: Wenn sie in der Mensa sich vordrängelnde türkische Studenten kritisiere, werde sie als „Rassistin“ beschimpft. Übers Saalmikrophon äußerte sich ein alter Sozialarbeiter so: „Die Minderheiten dürfen sich nicht jede Frechheit herausnehmen – und zum Beispiel türkisch sein schon als Qualifikation ansehen!“ Daß die Türken in SO 36 eine Minderheit sind, war ihm anscheinend noch nicht aufgefallen. Für Vera Gaserow war dies jedoch gerade ein Grund dafür, daß es in Kreuzberg – im Gegensatz zu allen anderen Bezirken und erst recht zu anderen Deutsch-Städten – doch recht harmonisch zugehe. Christian Ströbele setzte noch einen drauf: Die Berliner Grünen würden sich ja auch im Gegensatz zu anderen Grünen noch relativ positiv verhalten – und zum Beispiel für viele ausländische Belange einsetzen. Und der Kreuzberger Bürgermeister Franz Schulz fand – wie immer – abschließend die richtigen Worte: „Multikulti“ – das sei eben ein „dynamischer Prozeß“! Helmut Höge
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