Nordsee-Roman von Kristine Bilkau: Das große Ertrinken
Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse: Kristine Bilkau erzählt in ihrem neuen Roman „Halbinsel“ von Küstenlinien und Verlust.
Eine Landmasse, die auch bei Flut über dem Wasserspiegel hinausragt, die vom Meer überwiegend, aber nicht vollständig umgeben ist und eine oft schmale Verbindung zum Festland hat, wird Halbinsel genannt.
Dabei scheint das Wort selbst eine Art sprachliche Halbinsel zu sein, weil die etymologische Herkunft einerseits kaum noch erkennbar ist, andererseits aber, vor allem in symbolischer Hinsicht, aus dem Wörtermeer heraussticht: Es handelt sich nämlich um eine Lehnübersetzung des lateinischen Begriffs „peninsula“, der wörtlich mit „Beinahe-Insel“ oder „Fast-Insel“ zu übertragen wäre.
Große Halbinseln unterscheiden sich kaum vom Festland, aber die kleineren Landzungen, wie sie auch an den deutschen Küsten von Nord- und Ostsee zu finden sind, erinnern an die Vergänglichkeit, an das sich ständig ändernde Verhältnis von Meer und Küstenlinie.
Fragil ist die Natur und das Zwischenmenschliche
Von der Fragilität, die nicht nur in der Natur, sondern eben auch im Zwischenmenschlichen eine große Rolle spielt, erzählt Kristine Bilkaus neuer Roman „Halbinsel“. Am nordfriesischen Wattenmeer lebt die Endvierzigerin Annett im alten Haus der Großtante.
Kristine Bilkau: „Halbinsel“. Luchterhand Literaturverlag, München 2025, 224 Seiten, 24 Euro
Hier hat sie nach dem frühen Tod ihres Mannes Johan die Tochter Linn allein großgezogen; hier lebt sie nun zurückgezogen mit den Erinnerungen an eine große Liebe, während das längst erwachsene Kind die vom Klimawandel bedrohte Welt retten möchte. Linn engagiert sich als Umweltvolontärin in einem Aufforstungsprogramm, rast von einer Tagung zur nächsten, doch irgendwann ist die Erschöpfung zu groß.
Bei einem Vortrag in einem noblen Hotel in Norddeutschland kippt sie um: Kreislaufkollaps. Die Mutter holt Linn nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt zurück nach Hause, auf die heimische Halbinsel, und nun müssen die beiden ihre Beziehung neu ordnen, die einer psychischen Küstenlinie gleicht, in der es ebenfalls starke Gezeiten gibt.
Zwischen Sehnsucht und Melancholie
Wie auch in ihren vorangegangenen Romanen, insbesondere in dem Ehedrama „Eine Liebe, in Gedanken“, hat sich Kristine Bilkau für eine melancholisch-sehnsüchtige Erzählstimme entschieden, die das Seelenleben der Figuren mit Zugewandtheit, aber dennoch norddeutscher Zurückhaltung durchdringt. Besonders eindrücklich sind Annetts Zwiegespräche mit dem toten Mann. Wenn Linns Vorwürfe sich mehren, die Mutter habe der Tochter aus Furcht vor Verletzungen eine allzu heile Welt vorgespielt, fallen ihr Johans mahnende Worte ein.
Beruhigend und hilfreich sind die Ratschläge aus der Vergangenheit, doch irgendwann hat man das traurige Gefühl, dass die Witwe die im Roman kursiv gesetzten Formulierungen weitgehend erfindet, um das große Gefühl der Zuneigung, das sich nicht zuletzt im intensiven Gespräch der Eheleute zeigte, auch nach dem Tod des Gatten weiterleben zu lassen.
Auch wenn das Buch durchgehend bei der Ich-Erzählerin bleibt, erschöpft sich die Gedankenreise nicht, weil Annett, die in einer Stadtbibliothek arbeitet, eine aufgeschlossene und gebildete Figur ist, der man gerne folgt. Als sie durch die gepflegten und unwirklich aufgeräumten Wohnsalons jenes Hotels geht, in dem Linn zusammengebrochen ist, denkt sie etwa an den dänischen Maler Vilhelm Hammershøi, an die „Stille, die er malte. Als würden die Menschen dort auf etwas warten, sich auf etwas vorbereiten, ein Ereignis, eine Veränderung“. Nach einer solchen Veränderung sehnt sich auch Annett, sowohl für sich als auch für Linn, die nach dem vorläufigen Karriereende antriebslos im ehemaligen Kinderzimmer herumzuliegen scheint.
Sinn und Neuerfindungen
Die Mutter wird nicht nur der Tochter etwas Zeit für ihre Erholung geben müssen. Im Zuge der tastenden Annäherung begreift die Erzählerin, dass auch sie sich neu erfinden muss, zu sehr drücken Einsamkeit und die Frage nach dem Sinn ihrer Lebensroutine. Statt am Leiden der Tochter zu verzweifeln oder in der eigenen Traurigkeit zu versinken, emanzipiert sich Annett langsam, aber stetig in unterschiedlichen Bereichen.
Sie schaut sich Stellenanzeigen an, verliebt sich hier und dort, nimmt an Wattwanderungen von „Westerhever zur großen Sandbank, von Nordstrand zur Hallig Südfall“ teil und beschäftigt sich zum ersten Mal etwas intensiver mit dieser Gegend, die 1362 eine katastrophale Flut erlebt hat, welche als De Grote Mandrenke, als das große Ertrinken in die Geschichtsbücher eingegangen ist.
Steigender Meeresspiegel
Sturmfluten hat es also schon vor dem Klimawandel gegeben, aber nun ist der Mensch mitverantwortlich für die zunehmende Bedrohung, die vom steigenden Meeresspiegel ausgeht. „Woher kam bloß dieses Gefühl, dass alles ständig zerbrechlich sein konnte?“, fragt sich die Erzählerin, und die Antwort kann nach der Lektüre dieses eben auch sprachlich fragilen Romans nur lauten: Weil eben alles zerbrechlich ist.
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