Nordische Literaturtage: Jenseits von Bullerbü

Die Deutschen sind Europas hartnäckigste Skandinavien-Fans – und sie pflegen die meisten Klischees. Dabei sind die Autoren, die zu den Literaturtagen nach Hamburg kommen, kantig und postmodern.

Wenn das Klischee mit der Wirklichkeit zusammenfällt: das Haus von Astrid Lindgren Bild: dpa

HAMBURG taz | Skandinavier? Die leben in roten Holzhäuschen und singen abends Lieder am Fjord. Eine heile Welt ist Nordeuropa, fast wie Spielzeugland, so sehen es viele Deutsche. Wobei manche Klischees sogar stimmen: Die Schweden singen wirklich mehr als die Deutschen. Richtig ist auch, dass jeder Isländer die mittelalterlichen Sagas kennt.

Falsch ist aber, was deutsche Nordland-Reisende und sogar Skandinavistik-Studenten glauben: dass Skandinavien eine Gegend ist, wo die Uhren langsamer gehen und wo alle immer lässig sind. Diese Länder sind vielmehr hoch technisiert, weitestgehend gleichberechtigt, verbesserungswürdig aber in ihrem anonymen, sozialistisch geprägten Poliklinik-System.

Aber das bemerkt ja nicht, wer seine Klischees von Ferne pflegt, und darin sind die Deutschen besser als alle anderen Europäer. Davon profitieren auch die 14. Nordischen Literaturtage in Hamburg, deren Titel allerdings Fragen aufwirft. Denn was bedeutet eigentlich „nordisch“? Und wie weit reicht Nordeuropa? „Deutlich weiter als Skandinavien“, sagt der Kieler Skandinavistik-Professor Lutz Rühling.

„Skandinavien umfasst die Länder mit skandinavischen Sprachen – Dänemark, Norwegen, Schweden, Island und die Färöer-Inseln.“ Nordeuropa dagegen sei größer: Finnland zähle dazu, Grönland, sogar Nord-Schleswig-Holstein als Teil des Jütlands; manchmal werde gar Schottland mitgerechnet.

Jenseits solcher Formalien hat Skandinavien für viele Deutsche einen Nimbus, der schwer erklärbar ist. Begonnen hat das im 19. Jahrhundert, genauer: während der Romantik. Damals griff die Industrialisierung um sich, und um sie zu verkraften, brauchten die Menschen Sehnsuchtsorte. Schnell hatte man das schnuckelige Skandinavien ausgeguckt.

„Diese Länder schienen das zu verkörpern, was die Moderne den Kontinentaleuropäern wegnahm: eine heile Welt, wo die Menschen noch lebten wie im Mittelalter“, sagt Skandinavist Rühling.

Ende des 19. Jahrhunderts kam im Zuge der Strindberg- und Ibsen-Begeisterung eine regelrechte Skandinavien-Mode auf. Thomas Mann und Rainer Maria Rilke etwa lernten Dänisch, um den Impressionisten Jens Peter Jakobsen im Original zu lesen, und der Komponist Arnold Schönberg vertonte dessen Gurre-Lieder.

Doch literarische Moden verlaufen nicht linear: Das Schweden-Idyll, das Astrid Lindgren zeichnete, hatte mit den Strindbergs und Ibsens nichts zu tun, sondern war dem der Romantik nachempfunden. Und die Deutschen fliegen immer noch darauf, sodass Kulturwissenschaftler sogar vom „Bullerbü-Syndrom“ sprechen.

Die andere Hälfte des deutschen Skandinavien-Klischees kommt aus den 1960ern, als mit Maj Sjöwall und Per Wahlöö die Krimi-Euphorie begann, die später durch Henning Mankell aufgefrischt wurde. Von dem philo-skandinavischen Stereotyp profitieren die Nordeuropäer enorm, weshalb sie auch auf Hamburgs Krimifestivals regelmäßig vertreten sind. Da ist es fast ein bisschen ungerecht, dass sich mit der Isländerin Audur Jónsdóttir und der Schwedin Maria Ernestam auch ins Programm der Nordischen Literaturtage zwei Krimi-Autorinnen geschlichen haben.

Trotzdem, sagt Skandinavienkenner Rühling, seien im Gefolge der Krimi-Autoren auch andere nordische Autoren bekannt geworden. Zum Beispiel der Norweger Gabi Gleichmann, der bei den Nordischen Literaturtagen aus „Das Elixier der Unsterblichkeit“ liest.

Es ist die über 36 Generationen ausgefaltete Chronik einer jüdischen Familie und ein gutes Beispiel für die auch in Nordeuropa späte Aufarbeitung der Nazizeit. „Bis vor zehn, 15 Jahren“, sagt Rühling, „haben sich alle europäischen Nachbarvölker zu Widerstandskämpfern stilisiert.“

Inzwischen aber ist die Enkelgeneration erwachsen und geht unbefangener mit dem Thema um, sodass man auch über Kollaboration und die Ausgrenzung von Frauen spricht, die sich damals mit Deutschen einließen. Ob diese Nazis oder Widerständler waren, spielte in puncto Ausgrenzung übrigens keine Rolle.

Der Däne Knud Romer hat also Mut bewiesen, als er 2007 den Roman „Wer blinzelt, hat Angst vorm Tod“ edierte. Er beschreibt die Liebesbeziehung seiner Mutter zu Horst Heilmann, einem 1942 hingerichteten Mitglied der Widerstandsgruppe Rote Kapelle – und ihr Nachkriegs-Leben im dänischen Dorf, wo sie trotzdem als „Hitlerliebchen“ galt.

Solche Aufarbeitung ist auch deshalb wichtig, weil Literatur in den kleinen nordeuropäischen Ländern besonders identitätsstiftend ist. Selbst die Politik fühlt sich in der Pflicht: Der norwegische Staat kauft Teilauflagen jedes Debütwerks auf – noch, „denn auch hier geht der Trend zum Internet“, sagt Rühling.

Aber vielleicht ist gerade dies das Faszinosum nordeuropäischer Literatur: der Mix aus Archaik und Moderne, aus Mythos und Pragmatismus, der besonders in Island deutlich wird. Dass jeder isländische Bauer alle Sagas im Schrank habe, sei ein Gerücht, sagt Rühling. Tatsache sei aber, dass die Sagas eine wichtige Rolle in der Erinnerungskultur spielten.

Alte Baudenkmäler gibt es in Island kaum, weil man bis ins 19. Jahrhundert Torf verwandte – bleiben die immateriellen Kulturdenkmäler. Ihnen huldigt man exzessiv: „An jedwedem Fjord in der Einöde kann ein Schild stehen wie: Hier wurde Gisli erschlagen, der Held aus der Gisli-Saga“, sagt Rühling.

Heute geht die nordeuropäische Literatur ins Kantige, Schräge, Postmoderne, so Rühling. Mit Peter Hoegs „Fräulen Smillas Gespür für Schnee“ habe es angefangen, der Norweger Jon Fosse und der isländische Popstar und Autor Sjón folgten.

Und, zum Beispiel, die finnische Regisseurin und Autorin Rosa Liksom, die bei den Nordischen Literaturtagen gastiert. In ihrem Roman „Abteil Nr. 6“ erzählt sie von der Reise einer finnischen Studentin in der Transsibirischen Eisenbahn nach Ulan-Bator. Abteilgenosse ist ein ungeschlachter Bauer, der ihr unter anderem ein Mördermesser schenkt. Aber ein Krimi ist es nicht.

■ Nordische Literaturtage: 25. bis 28. November, Hamburg, Literaturhaus
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