Nordirland-Protokoll: Sieg der Vernunft
Brüssel und London müssen in der Welt zusammenstehen. Das funktioniert nur, wenn sie sich vertragen.
G eht doch. Die britische Regierung und die EU-Kommission haben das umstrittene Nordirland-Protokoll ihres Brexit-Abkommens revidiert. Jahrelang hatte London behauptet, die Anwendung des Protokolls sei unmöglich, weil es eine EU-Zollgrenze mitten durch das Vereinigte Königreich zieht. Jahrelang hatte Brüssel behauptet, die Neuverhandlung des Protokolls sei unmöglich, weil es integraler Bestandteil des geltenden Brexit-Abkommens ist. Beides war grundsätzlich korrekt und beides zusammen führte in die Sackgasse.
Nun hat sich die britische Seite weitgehend durchgesetzt. Das sogenannte „Windsor Framework“, das Rishi Sunak und Ursula von der Leyen am Montag in Windsor vorstellten, ersetzt zentrale Elemente durch neue Vereinbarungen, die die EU-Zollgrenze für den Warenverkehr zwischen Großbritannien und Nordirland abschaffen und ein nordirisches Vetorecht für die Gültigkeit von EU-Binnenmarktregeln in Nordirland einführen. Das sind zwei zentrale Zugeständnisse, gegen die sich Brüssel zuvor jahrelang gesträubt hatte.
Warum nicht gleich so? Schließlich war absehbar, dass das 2019 mit heißer Nadel gestrickte Protokoll langfristig nicht funktionieren würde. Ziel war damals, die politische Blockade um den britischen EU-Austritt zu lösen, mehr nicht. Der Protokolltext selbst sah eine Überprüfung seiner weiteren Gültigkeit nach vier Jahren und die Möglichkeit einer Revision vor. Es war alles eine Frage des politischen Willens. Zu lange wurde daraus aber eine Machtfrage, in der Nordirland von beiden Seiten als Geisel gehalten wurde. Brüssel beharrte auf dem Protokoll, London beharrte auf Abschaffung. Nichts davon war realistisch, aber es diente der Profilierung.
Die Ukraine-Zeitenwende hat diese Machtspielchen zunehmend lächerlich aussehen lassen. Europa insgesamt, ob EU oder nicht, muss gegen die russische Aggression zusammenstehen. Großbritannien wurde unter Boris Johnson zur europäischen Führungsmacht bei der Unterstützung der Ukraine. Zugleich drängt die Ukraine in die EU. Da macht es keinen Sinn, dass sich London und Brüssel weiter beharken. Sie sollten in der Welt an einem Strang ziehen, und das müssen sie zuerst vor der eigenen Tür schaffen.
Sunak machte es möglich
Die Vernunft erzwang ein Nachgeben der EU. Es kann nicht sein, dass das Beharren auf „Integrität“ des EU-Binnenmarkts die nordirischen Autonomieinstitutionen aushebelt und damit das Karfreitagsabkommen und den Frieden in Nordirland untergräbt, also genau das Gegenteil dessen bewirkt, was eigentlich bezweckt war. Ebenso wenig kann es sein, dass es einfacher ist, Kokain aus Südamerika in die EU zu schmuggeln, als einen Blumentopf aus Liverpool nach Belfast zu schicken.
Der Anspruch auf hundertprozentige Anwendung des Nordirland-Protokolls mit lückenlosen EU-Kontrollen sämtlicher Warensendungen von der britischen auf die irische Insel ist scheinheilig, wenn zugleich an anderen EU-Außengrenzen nur stichprobenartig kontrolliert wird und die wichtigsten Containerhäfen der EU wie Antwerpen und Rotterdam allmählich in den Griff der organisierten Kriminalität abgleiten.
Politisch machbar wurden die Brüsseler Zugeständnisse, weil in London nicht mehr Boris Johnson regiert. Schon seine Nachfolgerin Liz Truss begann den Prozess der Wiederannäherung an die EU, ihr Nachfolger Rishi Sunak gilt als brexitpolitisch unbelastet und regiert als Pragmatiker, der das von Johnson hinterlassene Chaos aufräumt. Es bleibt zu hoffen, dass ihm jetzt niemand in London oder Belfast doch noch Stolpersteine in den Weg legt, in der irrigen Annahme, weiteres Chaos sei irgendwie besser.
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