Nobelpreis an Liu Xiaobo: Botschaften aus Oslo
In bewegter Atmosphäre wird der abwesende Liu Xiaobo geehrt. Auch seine Frau darf nicht teilnehmen. Die Preisrede des Nobelkomitees übt deutliche Kritik an China.
Die Friedensnobelpreisurkunde steht auf dem leeren Ehrenstuhl. In diesem schlichten, schnörkellosen Bild ruht die ganze Botschaft dieses Osloer Tages. Thorbjørn Jagland, Vorsitzender des Nobelpreiskomitees, sagt dann, dass keines der Jurymitglieder Liu je getroffen habe. "Aber wir haben das Gefühl, ihn gut kennengelernt zu haben, wir haben ihn lange studiert."
Liu habe durch seine Frau ausrichten lassen, dass er den Preis gern den "verlorenen Seelen der 4.-Juni-Bewegung auf dem Tiananmen-Platz 1989" widmen möchte. Das Nobelkomitee komme diesem Wunsch mit Freude nach. Nicht eingeschüchtert durch den beispiellosen Druck, den die Pekinger Machthaber seit der Nominierung Lius auf viele Regierungen ausübten, bettete es die Preisverleihung in eine Rede, die an politischer Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ.
"Liu hat nur seine Bürgerrechte ausgeübt. Er hat nichts Falsches getan", so der Komiteevorsitzende Jagland. "Er muss freigelassen werden." Das Komitee unterstütze mit Lius Wahl einen, der sich für die Rechte "von uns allen" einsetze. Denn eine aufsteigende Nation, die sehr mächtig zu werden verspricht, benötige die innere Kontrolle durch ihre Bürger. Wenn die Macht unkontrollierbar werde, so der Juror des Nobelpreiskomitees, passierten schreckliche Dinge; das habe die Menschheitsgeschichte hinlänglich bewiesen.
Aus der Rede von Thorbjørn Jagland, dem Präsidenten des Preiskomitees:
Zu Lius Person: "Das norwegische Nobelkomitee hat sich dazu entschieden, Liu Xiaobo für seinen langjährigen und gewaltlosen Kampf für grundlegende Menschenrechte in China mit dem Friedensnobelpreis 2010 auszuzeichnen. […] Die chinesische Verfassung garantiert grundlegende Menschenrechte. […] Liu hat diese Rechte wahrgenommen. Er hat nichts Falsches getan. Er muss deshalb freigelassen werden."
Zu Lius Bedeutung für China: "Die harten Strafen, die über Liu verhängt wurden, haben ihn zu mehr gemacht als einem Sprecher für Menschenrechte. Praktisch über Nacht wurde er inner- und außerhalb Chinas zum Symbol des Kampfs um Menschenrechte."
Zu Lius Abwesenheit: "Es gab schon mehrfach Veranstaltungen, an denen die Preisträger nicht teilnehmen durften. Im Lichte der Geschichte erwiesen sich diese Fälle als die bedeutendsten und ehrenhaftesten Auszeichnungen." (taz)
Das Preisgeld in Höhe von 10 Millionen schwedischen Kronen (rund 1,1 Millionen Euro) soll einstweilen in Oslo aufbewahrt werden, bis Liu es persönlich entgegennehmen kann. Der Schriftsteller wurde 2009 in China wegen Untergrabung der Staatsgewalt zu elf Jahren Gefängnis verurteilt.
Gegen den Festsaal der Osloer Zeremonie hätte die chinesische Regierung vermutlich kaum ästhetische Einwände gehabt. In der marmornen Großen Halle prangen große Wandmalereien. Die bunten Szenen zeigen Bauern, Handwerker und Beamte bei ihrer Arbeit. Der humanistisch gesinnte norwegische Maler Henrik Sørensen entlehnte in den späten 30er Jahren seine Figuren durchaus dem sozialistischen Realismus. Ganz so, wie die chinesischen Machthaber Kunst noch heute gern definieren. Doch der leere Stuhl erinnerte daran, dass diese Pekinger Machthaber keineswegs nach Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkten suchten.
Der im Vorfeld erhobene Vorwurf der chinesischen Regierung, die Auszeichnung für Liu Xiaobo sei eine antichinesische Attacke, zeige, wie wenig die politischen Machthaber ihre eigenen geistesgeschichtlichen Traditionen kennen, betonte bei einer Veranstaltung von Amnesty International in Oslo der Präsident des Internationalen PEN, John Ralston Saul. Er wies darauf hin, dass es in der chinesischen Literatur genügend Quellen gebe, aus denen Liu Inspiration beziehen konnte. Da ist der große chinesische Schriftsteller Lu Xun, oder der Sozialkritiker Lao She. Beide thematisierten zum Beispiel in ihren Werken die Verantwortung einer Gesellschaft für Gerechtigkeit und für den Respekt vor dem Individuum. Von daher sei es absurd und falsch, die Forderung nach Achtung der Menschenrechte als ein ausschließlich westliches Anliegen darzustellen, sagte Saul.
Er und andere, die Liu Xiaobo und seine Frau Liu Xia persönlich kennengelernt haben, berichteten davon, wie intensiv sich Liu, der Literaturprofessor, schon seit Jahren auf sein schwieriges Leben vorbereitet habe. Das Paar sei sich immer völlig im Klaren darüber gewesen, dass beide mit ihren Forderungen bei der Regierung anecken würden. Liu Xia, die einsame Gefährtin, steht seit der Osloer Nominierung Lius vom 8. Oktober unter Hausarrest in ihrer Pekinger Wohnung.
Liu Xiaobo fehlt, und das nicht nur an diesem Tag. Die melancholische Atmosphäre, die Edvard Griegs Musik zur Eröffnung der Feierlichkeit im Osloer Rathaus erzeugte, lässt nachempfinden, wie dieser Mann wirken könnte, wäre er frei. Manche im Publikum sind tief bewegt. Auch die Moderatorin Anne Hathaway, die grazile US-Schauspielerin, zeigt sich gerührt, als die norwegische Schauspielerin Liv Ullmann aus Lius eigenen Texten liest.
"Ich hoffe, dass ich das letzte Opfer der chinesischen Unterdrückung sein werde", schrieb Liu. Und an seine Frau: "Meine Liebste, ich weiß, deine Liebe wird nicht schwinden in all den Jahren, du bist meine Kraft."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen