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Niedersachsen vor der LandtagswahlWohnungsnot am Wasser

Urlaub auf Norderney wird immer beliebter, immer mehr Ferienwohnungen entstehen. Der Wohnraum für Einheimische wird schier unerschwinglich.

Sehnsuchstort Norderney: Ferienwohnungen auf der ostfriesischen Insel Foto: imago

Norderney taz | Auf der Poststraße in Norderney, ganz in der Nähe des Kurplatzes und der Gosch-Filiale, steht Heiko Haupenthal und deutet nach oben. Er trägt noch die grau-gelbe Arbeitskleidung von Netto, darüber eine Herbstjacke. Das Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone ist nass, das Laternenlicht spiegelt sich in kleinen Pfützen. Er zeigt mit dem Finger auf den ersten Stock eines unbeleuchteten Hauses.

Über dem Friseursalon sind zwei große Fenster. Der linke Teil ist seine Wohnung, sagt Haupenthal. Daneben, am anderen Fenster, sind die Jalousien heruntergelassen. Die ganze Etage war früher eine zusammenhängende Wohnung. Sie wurde unterteilt. Die rechte Hälfte sei jetzt eine Ferienwohnung. „Deswegen habe ich auch keinen Briefkasten, es gab ja nur einen“, sagt Haupenthal. Bald muss er sowieso wieder ausziehen, die Wohnung werde verkauft. Dann beginnt die Suche von Neuem.

Wer von hier zur Strandpromenade Norderneys geht, spaziert an schönen Häusern vorbei, alles wirkt aufgeräumt und ruhig. An fast allen Eingängen sind Schilder angebracht: Appartements, Ferienwohnungen, Zimmer frei. Ende September stehen bereits viele Häuser leer. Die Feriensaison ist fast vorbei und die abgereisten Ur­lau­be­r:in­nen hinterlassen Geisterstraßen, in denen im Winter kaum jemand wohnt.

Es sind die Schattenseiten der touristischen Entwicklung von Norderney. Manche sprechen schon von „Syltisierung“ und ziehen damit den vorsichtigen Vergleich zum nordfriesischen Sylt. Gemeint ist der immer weiter wachsende Tourismus – besonders im Sommer. 2021 zählte Norderney fast drei Millionen Übernachtungen, immerhin knapp 300.000 mehr als Sylt. Im Vor-Corona-Jahr 2019 waren es sogar 3,8 Millionen.

Leere Tourismuslandschaft

Im Winter, wenn die Nordsee rau und das Wetter trüb ist, bleiben die meisten Be­su­che­r:in­nen weg. Viele Ei­gen­tü­me­r:in­nen von Ferienwohnungen leben weit weg. Und weil die Stadt nur 6.000 Ein­woh­ne­r:in­nen zählt, verkümmert das Inselleben zu einer leeren Tourismuslandschaft.

Durch den Boom der vergangenen Jahre sind die Immobilienpreise auf Norderney explodiert. Nach Angaben des Portals wohnungsboerse.net kostete im vergangenen Jahr eine 60-Quadratmeter-Wohnung 90 Prozent mehr als 2011, der Quadratmeterpreis stieg von 5.392 auf 10.263 Euro. Häufig kaufen In­ves­to­r:in­nen vom Festland Häuser auf der Insel, renovieren und vermieten sie an Tou­ris­t:in­nen weiter. Das ist lukrativ, denn Ferienwohnungen sind begehrt und Bauland ist knapp.

Die Folge dieser Entwicklung: Immer weniger Menschen können sich eine Wohnung auf Norderney leisten. Das wird vor allem für die zum Problem, die auf der Insel leben und arbeiten. Die wenigen Wohnungen, die für Einheimische und Arbeitskräfte übrigbleiben, sind oft klein und teuer – oder in schlechtem Zustand. Auch Haupenthals Geschichte ist eine Geschichte der Wohnungssuche, die immer belastender wird.

Haupenthal ist 41 Jahre alt. Er hat an den verschiedensten Orten gearbeitet, ist dorthin gezogen, wo es Arbeit gibt. Er hat in zwölf Bundesländern gelebt, mal in der Schweiz, mal in Frankreich. 2017 kommt er zum ersten Mal nach Norderney. Zunächst für eine Saison, wie so viele, die später bleiben werden. Der gelernte Fleischer findet eine Anstellung bei einer Metzgerei. Die stellt ihm eine Personalwohnung: ein Zimmer mit Bad, ungefähr 16 Quadratmeter.

Wohnen in der Rumpelbude

Für das Zimmer zahlt er 500 Euro, kalt – und das auch nur, weil die Wohnung zur Metzgerei gehört. Doch die Kombination aus Chef und Vermieter ist für Haupenthal schwierig, das Zimmer beengend. Er findet etwas Neues in Hafennähe: Dachgeschoss, etwas mehr Platz, keine Personalwohnung mehr. Kurz danach wechselt er den Job. Doch die neue Wohnung stellt sich als „Rumpelbude“ heraus: „Die Badinstallationen waren so stümperhaft, dass überall das Wasser geflossen ist“, sagt Haupenthal. „Der ganze Boden war morsch, es war eine Katastrophe.“ Vom Hafen zieht er im November 2021 in die Poststraße. Aber auch diese Wohnung wird nur eine Übergangslösung sein.

Und Haupenthal ist nicht alleine. Als sein Arbeitskollege Eduard Mihel nach Norderney kommt, zieht er zunächst in eine Wohngemeinschaft, von dort in eine Personalwohnung. Seit eineinhalb Jahren wohnt er nun in einer kleinen Wohnung in Zentrumsnähe: Souterrain, 19 Quadratmeter, 675 Euro. Zweimal stand sie nach Stürmen bereits unter Wasser. Er sucht nach einer neuen Wohnung, bisher ohne Erfolg. Auf der Warteliste der Norderneyer Wohnungsgesellschaft ist er in drei Jahren von Platz 253 auf Platz 78 vorgerückt. Auch das wird so schnell nichts werden.

Geschichten wie diese gibt es viele auf Norderney. Sie beschreiben das Doppelwesen und die Zwiespältigkeit des Inseltourismus. Ohne Arbeitskräfte wäre Tourismus nicht möglich, doch immer mehr Stellen bleiben offen. Ferienwohnungen brauchen Reinigungspersonal, die Restaurants Bedienungen, der Einzelhandel Verkäufer:innen,. Dass die aber auch irgendwo wohnen müssen, geht in der Dynamik oft unter. Viele landen in Personalwohnungen, weil sie auf dem regulären Wohnungsmarkt nichts finden.

Für Haupenthal hängen die Lage am Wohnungsmarkt und der Personalmangel zusammen. Nicht je­de:r möchte in einer Personalwohnung leben. Er kenne Kolleg:innen, die deshalb wieder gegangen sind. Andere haben sich seit der Coronapandemie anderweitig orientiert und bleiben nun ganz weg. Das betrifft einerseits die Gastronomie, die als Reaktion die Öffnungszeiten verkürzt oder Ruhetage einführt.

Zunehmender Personalmangel

Aber auch der Einzelhandel sucht dringend Personal, man erkennt es an den vielen Aushängen vor Geschäften. Im schlimmsten Fall müssen Betriebe ganz schließen. Auch das ist auf Norderney schon passiert, wie Hans Vollmer vom lokalen Hotel- und Gaststättenverband sagt. Sollen Ar­beit­neh­me­r:in­nen langfristig gehalten werden, müsse es auch attraktiven Wohnraum geben.

Auch für Un­ter­neh­me­r:in­nen wird die Suche nach Personalunterkünften schwieriger. Laut Vollmer können sich aufgrund der immer höheren Preise fast nur noch größere Unternehmen Häuser auf Norderney kaufen, um ihr Personal unterzubringen. Für die kleineren Betriebe funktioniere das nicht mehr. Auch dadurch wächst das Problem. Um die Situation auf dem Wohnungsmarkt zu entschärfen, hat die Gemeinde 2019 eine Satzung erlassen, die die Zweckentfremdung von Wohnraum verhindern soll. Demnach dürfen reguläre Wohnungen zu höchstens 50 Prozent gewerblich vermietet werden. Zudem darf Wohnraum höchstens sechs Monate leer stehen. Ob und wie die Regelung eingehalten wird, ist aber nicht immer leicht zu kontrollieren.

Immerhin: Die städtische Wohnungsgesellschaft WGN besitzt heute 714 Mietwohnungen. Dass der Bedarf höher ist, zeigt die lange Warteliste. Die Stadt ist bemüht, Bebauungspläne zu ändern und weiteren Wohnraum zu schaffen. Weil ein Großteil der Insel aber im geschützten Nationalpark liegt, sind die Möglichkeiten begrenzt.

Der Inseltourismus bleibt eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Gratwanderung. Auch wenn es lange Zeit gut gegangen sei, steht der Tourismus auf Norderney für Vollmer nun an einem wirtschaftlichen Kipppunkt. Ein Großteil der Einheimischen ist beruflich von den Be­su­che­r:in­nen abhängig. Doch die Intensität des Tourismus bedroht das Inselleben und sorgt dafür, dass bezahlbarer Wohnraum knapp wird. Jetzt bleibt das Personal weg, weil die Wohnungslage so angespannt ist.

Für viele wie Haupenthal beginnt nun eine ruhigere Zeit auf Norderney. Im Winter kommen nicht viele Ur­lau­be­r:in­nen an die Nordsee. An der angespannten Wohnungslage ändert das nichts. Die geschlossenen Ferienhäuser und leeren Straßen sind Ausdruck einer touristischen Entwicklung, von der nicht alle profitieren.

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2 Kommentare

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  • Hier verschluckt sich eine Gemeinde an der eigenen Gier.



    Die einfachste Lösung wäre, daß Eigentumserwerb mit der Bedingung daher kommt dort auch zu wohnen. In Irland auf den Aran-Inseln gibt es so ein Modell (Grunderwerb nur durch Einheimische) und die Bewohner fahren gut damit.

  • Tja, leider schlägt sich das komplette, vollflächige Totalversagen der Politik auch hier nieder denn man könnte qua Ortssatzung den Anteil touristischen Wohnraums begrenzen.

    Hab's kürzlich erst im Inselurlaub erlebt: Strom fiel aus. Handwerker nicht zu bekommen denn auf der Insel lohnt sich eine Elektrofirma nicht. Vom Festland Anfahrt undenkbar (Stundenlohn, Fähre, Fährzeiten, ...) Einheimische, die evtl. einen Elektriker wissen, nicht zu finden. Alles nur Touri-Betrieb. Und der Hausservice schwingt nur mal den Lappen und kann bestenfalls eine Birne auswechseln.

    Zum Glück Fehler selber gefunden (Mikrowelle defekt).

    Ich schreibe extra nicht welche Insel - aber das wird überall gleich aussehen.