: Nichts als dieWahrheit
Singapur hat eines der härtesten Anti-Fake-News-Gesetze der Welt. Doch die Regierung missbraucht es, um Kritiker:innen der Todesstrafe zum Schweigen zu bringen
Aus Singapur Christian Jakob
Auf den Straßen Singapurs geht es leise zu, beinahe, als sei immer Feiertag. Zwischen den glasverkleideten Hochhäusern fahren nur wenige, oft elektrische Autos umher. Die über drei Millionen Menschen, die täglich die Metro nutzen, verteilen sich entspannt in den großzügigen Gängen der U-Bahn-Stationen mit ihren glänzend polierten Granitfliesen am Boden. Geschäfte gibt es hier keine, nur Automaten für frisch gepressten Orangensaft. Der kommt mit verschweißtem Deckel aus der Klappe. Öffnen, bevor man in den eigenen vier Wänden ist, ist streng verboten.
Polizisten? Schmutz? Bettler? Verspätungen?
Hier nicht.
Als Besucher gewöhnt man sich an die Ruhe, die Sauberkeit und das Gefühl von Sicherheit so schnell, dass man es bald für normal hält. Doch all das ist nicht gottgegeben, sondern politisch aufwendig hergestellt. Die staatlich limitierten Autozulassungen etwa werden versteigert. Wer einen Mittelklassewagen auf die Straße bringen will, muss über 100.000 Euro zahlen. Gleichzeitig investierte Singapurs Regierung bis heute umgerechnet rund 100 Milliarden Euro in die Metro – Weltrekord.
Mit Geld und strengen Gesetzen werden Gefahr, Schmutz und Unruhe von dieser Insel (genau genommen sind es 64 Inseln) des Wohlstands ferngehalten. Und wenn das die Freiheit einschränkt, dann ist das eben so. Für diesen Gesellschaftsvertrag steht die People’s Action Party (PAP), die Singapur schon seit 1959, drei Jahre vor der Unabhängigkeit von Großbritannien, ohne Unterbrechung regiert.
Heute kommt immer mehr vom Schmutz und den Gefahren der Welt aus dem Internet. Auch da greift die PAP durch. Seit 2019 gibt es den Protection from Online Falsehoods and Manipulation Act (POFMA). Er stellt die Verbreitung von „Unwahrheiten“ unter Strafe, wenn sie Sicherheit, öffentliche Gesundheit, öffentliche Ruhe oder Staatseinnahmen gefährden, „Hassgefühle“ zwischen den Volksgruppen – gemeint sind Malaien, Chinesen und Inder – schüren oder „das Vertrauen der Öffentlichkeit in die […] Regierung“ untergraben. In schweren Fällen drohen umgerechnet 335.000 Euro Geldstrafe und bis zu zehn Jahre Haft.
Die öffentliche Ruhe stören, das hat sich Kokila Annamalai Parvathi zweifellos vorgenommen. Alle nennen sie nur Koki, vermutlich sogar die Menschen im Todestrakt, die Parvathi vor der Hinrichtung zu retten versucht. In Singapur herrsche ein „barbarisches Todesstrafenregime“, sagt Parvathi, und sie werde das niemals akzeptieren.
Sich selbst der Lüge bezichtigen
Parvathi ist eine der Gründer:innen des Transformative Justice Collective (TJC). In der Gruppe haben sich viele Gegner:innen der Todesstrafe in dem Stadtstaat vereint. Singapurs Regierung warnt vor ihnen, so wie sie vor Rauchen, ungesundem Essen oder Smog warnt: „Auf dieser Website wurden mehrere Unwahrheiten verbreitet“, steht heute auf der TJC-Seite.
Leser:innen sollten „Vorsicht walten“ lassen. Denn wer in den Augen von Singapurs Regierung Fake News verbreitet, muss sich selbst der Lüge bezichtigen und die Darstellung der Regierung als die korrekte öffentlich anerkennen.
Parvathi aber weigert sich, das zu tun.
Sie ist 37 Jahre alt, ihre gelockten schwarzen Haare fallen lose auf die Schultern, sie trägt oft einen Sari, wie ein Bekenntnis zu ihren indischen Wurzeln. Ihr Instagram-Profil heißt „learningfromthemargins“, von den Marginalisierten, den Ausgegrenzten lernen, soll das heißen. Zu sehen sind dort viele Fotos von ihr mit erhobener Faust in der ersten Reihe von Protestveranstaltungen. Campaignerin ist vielleicht die treffendste Beschreibung für das, was sie tut: Protestaktionen organisieren. Sie macht das schon, seit sie Anfang 20 ist. „Ich hab das zu meinem Beruf gemacht“, sagt sie: Kämpfe von Mieter:innen und migrantischen Arbeitskräften, gegen Wucher oder Ausbeutung, für Palästina. Vor allem aber kämpft Parvathi gegen die Todesstrafe.
Im Safest City Index des Economist landet Singapur 2021 weltweit auf Platz drei. Die Kriminalitätsrate ist eine der niedrigsten der Welt. 78 Prozent der Singapurer:innen sind der Meinung, es brauche die Todesstrafe, damit das so bleibt.
14 Menschen wurden laut Amnesty International bisher 2025 in dem Stadtstaat hingerichtet. Im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße sind das etwa 19-mal so viele wie in den USA. Der hochtechnisierte Staat straft dabei wie im Mittelalter: Mit dem Galgen, an Freitagen, kurz vor Sonnenaufgang. Meist trifft es Migrant:innen, Arme, Suchtkranke. Das TJC, Parvathis Gruppe, protestiert mit Mahnwachen, Veranstaltungen, offiziellen Eingaben in einem Land, in dem Protest und öffentliche Kritik an der Regierung keinen Platz haben.
Viele im Land wüssten auch gar nicht, was es zu kritisieren gäbe. Sie sagen Sätze wie: „Wenn ich so höre, wie es anderswo zugeht, dann muss ich sagen: Ich kann mich nicht wirklich beschweren“ – so oder ähnlich denken viele Menschen in Singapur.
Fotos noch aus den letzten Jahren der britischen Herrschaft in dem Stadtstaat Anfang der 1960er Jahre zeigen einfache Holzhütten zwischen Palmen. Heute wirkt die Stadt wie eine Architekturausstellung, eine Manifestation dessen, zu was Baukunst imstande ist, wenn Geld und Ambition zusammenkommen. Möglichst bald schon sollen die Gebäude voll begrünt sein, um der Klimakrise besser zu trotzen. Vorbildlich ist die Stadt dabei schon heute. Das tropische Grün kontert die Sterilität der Straßen.
Singapur ist keine Geheimdienstdiktatur, die mit undurchsichtigen Methoden und Willkür ihre Gegner kontrolliert. Das staatliche Vorgehen gegen Aktivist:innen wie Parvathi ist haarklein im Netz dokumentiert, zu jedem Schritt gibt es eine offizielle Pressemitteilung samt Kontaktdaten für Nachfragen. Die Repression wird hier mit maximaler Transparenz vollzogen. Vielleicht ist das ein Grund, weshalb Aktivist:innen dazu bereit sind, relativ frei zu reden.
Parvathi kommt zum Treffpunkt in eine Mall am westlichen Ende der Haupteinkaufsstraße Orchard Road. Nach einem kurzen Gespräch führt sie in eine benachbarte Mall, läuft durch den Hinterausgang zu einer Wohnstraße mit zweistöckigen Häusern, eine Rarität angesichts des knappen und exorbitant teuren Baulands. Die Häuser sind einfach gebaut, aber ihr Wert geht in die Millionen. So ist es nur einem wohlhabenden privaten Gönner zu verdanken, dass in einem dieser Bauten ein knappes Dutzend linker politischer Gruppen ihren Treffpunkt und ihre Büros haben. Klima, LGBTIQ, Streiks – mit den ganzen Politplakaten an den Wänden wirkt dieser Ort wie ein Fremdkörper inmitten des glatten, durchorganisierten Singapurs.
Parvathi setzt sich an einen Tisch und erzählt. Sie spricht druckreif, alles was sie sagt, hat sie offenkundig lange durchdacht, in Diskussionen erprobt. Das Anti-Fake-News-Gesetz nennt sie eine „Form der psychologischen Gewalt gegen die Öffentlichkeit“. Es werde von den „Machthabern missbraucht, um ihre eigennützigen Meinungen als ‚korrekte Fakten‘ auszugeben und sie uns in den Hals zu stopfen“, sagt sie.
Die Vorwürfe gegen sie beziehen sich auf Posts vom Oktober 2024. Sie kritisiert darin die Umstände mehrerer Hinrichtungen, unter anderem jener von Mohammad Azwan bin Bohari. Er wurde 2017 mit 26,5 Gramm Diamorphin, synthetischem Heroin, in einer Keksdose von der Polizei aufgegriffen. 15 Gramm reichen, um in Singapur zum Tode verurteilt zu werden. Sieben Jahre später, am 4. Oktober 2024, wurde Bohari im Alter von 48 Jahren exekutiert.
Parvathi hatte unter anderem kritisiert, dass das Rechtssystem den Todeskandidaten eine unerfüllbare Beweislast aufbürdet. Sie verwies auch darauf, dass die Familie Boharis angesichts noch ausstehender Rechtsmittel von der Hinrichtung überrascht wurde. Auch Amnesty International hatte dies scharf gerügt. Mit Blick auf weitere Fälle hatte Parvathi fehlende Dolmetscher und die Hinrichtung psychisch kranker Menschen kritisiert.
Ihre Vorwürfe veröffentlichte Parvathi auf den Webseiten des TJC und auf ihren eigenen Social-Media-Kanälen. Nur Tage später wies das Innenministerium die beim Informationsministerium angesiedelte Anti-Fake-News-Behörde an, eine „Korrekturmeldung“ zu verfassen. Diese Meldungen werden zunächst auf einer Regierungsseite mit dem Namen „Factually“ – also etwa „tatsächlich“ – veröffentlicht.
Bliebe es dabei, wäre es schlicht eine Gegendarstellung, in der die Regierung ihre Sicht der Dinge darlegt.
Doch es geht weiter.
Der POFMA sieht keine Löschung vor. Die Verfasser:innen müssen vielmehr auf der Startseite ihrer Website oder im Header ihres Social-Media-Profils eine von der Regierung vorformulierte Selbstbezichtigung posten. Das TCJ als Ganzes gab nach: „Auf dieser Website wurden mehrere Unwahrheiten verbreitet“, steht dort nun in Englisch ganz oben auf der Startseite, bis heute.
Zweitens muss ein Warnhinweis dem fraglichen Beitrag vorangestellt werden: „Dieser Beitrag enthält falsche Tatsachenbehauptungen“, steht dort nun. Für die „korrekten Fakten“ möge man dem bereitgestellten Link zur Darstellung der Regierung folgen.
Drittens schließlich muss der Text des ursprünglichen Beitrags in einer von der POFMA-Behörde vorformulierten Weise verändert oder ergänzt werden. Dabei wird das, was dort vorher stand, teils ins Gegenteil verkehrt. Unter anderem steht dort nun: Die Todeskandidaten um Mohammad Azwan bin Bohari hätten das Gerichtsverfahren „missbraucht“, indem sie „in letzter Minute Anträge einreichen, um ihre geplante Hinrichtung zu verhindern“.
Wer die Anweisungen der POFMA-Behörde befolgt und die Regierungsdarstellung übernimmt, wird nicht weiter bestraft. Für Parvathi kam das nicht infrage. Sie ließ die Posts auf ihren eigenen Profilen unverändert. „Es gibt keine Strafe, die hart genug wäre, um mich zu zwingen, diese Ansicht als die ‚Wahrheit‘ zu wiederholen“, sagt sie.
Todeskandidaten gehören zu den „verletzlichsten, machtlosesten und stimmlosesten Menschen in unserer Gesellschaft“, sagt Parvathi. „Die Gerichte hingegen gehören zu den mächtigsten Institutionen in diesem Land.“ Es sei sehr seltsam, es „Missbrauch“ zu nennen, wenn Gefangene vor einer Hinrichtung alle zur Verfügung stehenden rechtlichen Mittel ausschöpfen. „Für mich ist das eine höchst widerwärtige Position“, so Parvathi. „Ich stehe zu dem, was ich gesagt habe.“
Das Land verlassen darf Parvathi zum Zeitpunkt des Treffens mit der taz nicht. Die Justiz hat ihr ihren Pass eingezogen, sie ist auf 5.000 Dollar Kaution in Freiheit. Denn im Februar 2024 hatte sie einen Protestmarsch gegen den Krieg in Gaza zum Sitz des Präsidenten angeführt. Gestattet sind Proteste in Singapur aber nur in einer Ecke des Hong-Lim-Parks in der Innenstadt.
Wegen der Todesstrafenposts sei sie „mehr als sechs Stunden auf der Polizeiwache“ verhört worden, „ohne Anwalt“, berichtet sie. Der Prozess in der Sache steht noch aus.
Nationale und internationale Medien berichteten über Parvathis Fall. In Singapur selbst muss die Regierung Kritik an ihrem Vorgehen indes kaum fürchten. Was sie tut, empfinden viele Menschen als legitim.
Praktisch ohne politische Konkurrenz, mit genügend Geld und einer relativ unkritischen Medienlandschaft vermochte die Regierung über Jahrzehnte umzusetzen, was sie versprach. Auch ohne eigene Rohstoffe führte sie das Land ökonomisch an die Weltspitze, freiheitsmäßig aber nur ins Mittelfeld: 48 von 100 Punkten bekommt Singapur im Freedom-in-the- World-Index.
Zum Unabhängigkeitstag verschickt die Regierung Gutscheine für Kuchen an alle Haushalte. Nachdem die Zahl der Online-Betrügereien zugenommen hatte, kam Anfang August eine viersprachige Postwurfsendung der Polizei mit Leitfaden in leichter Sprache und den Kontaktdaten zu externen Beratungsstellen. Singapur ist eine Art asiatischer Nanny State. Und über die Jahrzehnte hat die Bevölkerung die Mischung aus Wohlstand, Sicherheit und engen Grenzen akzeptiert.
So kann das „Untergraben des Vertrauens in die Regierung“ heute als Straftat verfolgt werden. Aus europäischer Sicht erscheint das wie ein uferloses Instrument der Herrschenden, sich vor Kritik zu schützen. „In Singapur war das gar kein Thema“, sagt dazu Thum Ping Tjin. Der einst in Oxford lehrende Historiker ist auf die Verfassung des Stadtstaats spezialisiert und einer der wenigen wahrnehmbaren Regierungskritiker Singapurs. Thum gründete mit Parvathi und anderen das Transformative Justice Collective. 2018 war er einer der Expert:innen, die im Parlament bei den Beratungen zum POFMA angehört wurden.
Meinung kann Fake News sein
Schon damals warnte er vor dem Gesetz. 2020 dann sagte er in einem Youtube-Video seiner Reihe „The Show with PJ Thum“, dass der POFMA Kritik an der Regierung unmöglich mache. Er bekam postwendend einen ministeriellen Bescheid, dies als „Fake News“ zu kennzeichnen. Die Regierung veröffentlichte „Korrekturen und Klarstellungen“ zu seinem Video. Thum gab nach, veröffentlichte eine neu geschnittene Fassung des Clips.
Der Historiker berichtet davon bei einem Zoom-Gespräch aus Kobe in Japan. Denn die Regierung Singapurs hatte Thum 2023 mit fadenscheiniger Begründung Wahlmanipulation vorgeworfen. Als der Druck größer wurde, ging der Wissenschaftler mit seiner Frau aus Singapur ins Exil.
Dass die Regierung Fake News bekämpfen wolle, sei an sich richtig, sagt Thum. „Das ist ein Problem, wir sehen ja, wie etwa Russland in Europa mit Desinformation versucht, Wahlergebnisse zu manipulieren oder die Ukraine als Kriegsschuldige erscheinen zu lassen.“ In Singapur sei „chinesische Desinformation eines der größten Probleme“, so Thum. Auch gegen das Anliegen, die Harmonie zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen zu schützen, keine Hetze zuzulassen, sei nichts einzuwenden, ebenso wenig, wie Fake News von Impfgegnern über Covid einzudämmen.
„Zu Beginn hat die Regierung versprochen, dass sie nur gegen Unwahrheiten vorgehen werde, die öffentliche Interessen beeinträchtigen“, sagt Thum über den POFMA. Anfangs sei es auch so gehalten worden. „Aber sehr bald wurde klar, dass die Regierung den eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird.“ Bald schon habe sie auch Meinungsäußerungen als „Fake News“ angegriffen und sei dabei mit „sehr zweifelhaften Begründungen gegen Oppositionspolitiker“ vorgegangen, erzählt er. Sogar, wenn nur die Interpretation einer Aussage falsch sein kann, könne sie die Aussage als falsch einstufen. So könne sehr vieles, was der Regierung nicht gefällt, heute als Fake News verfolgt werden.
Die POFMA-Behörde will dazu kein Interview geben. Auf Anfrage schickt das Justizministerium nur eine freundliche Mail mit ein paar Links. Darin ist zu lesen, wie hilfreich sich das Gesetz im Kampf gegen Fake News erwiesen hat.
In den USA zerstört Trumps Regierung gerade alles, was demokratische Rechtsstaatlichkeit ausmacht. Möglich wurde dies auch durch eine unregulierte Medienöffentlichkeit, die der Verbreitung von Hass, Hetzen und Lügen keinerlei Schranken setzte. Am Ende war das Misstrauen in den Staat, der Hass auf die Minderheiten so groß, dass Trump durchmarschieren konnte.
In der EU gibt es Kräfte, die Ähnliches vorhaben. Auch sie diskreditieren die Eliten, die Institutionen, die Demokratie. Sie lügen und hetzen, als Geschäft und als politisches Projekt. Die Folgen sind bereits sichtbar. Eine Umfrage der Körber Stiftung von 2024 ergab, dass das „Vertrauen in die Demokratie“ bei 51 Prozent der Deutschen „weniger groß“ oder „gering“ war. Der Bundesregierung brachten nur noch 18 Prozent „großes“ oder „sehr großes“ Vertrauen entgegen.
Wer hierzulande mit den Landesmedienanstalten oder Politikern darüber spricht, wie der demokratiezersetzenden Hetze im Netz Einhalt geboten werden kann, hört immer wieder einen Satz, der auf George Orwells Roman 1984 verweist: Der Staat dürfe „kein Wahrheitsministerium“ sein, nicht über Wahrheit oder Unwahrheit von Inhalten entscheiden. Die Redefreiheit sei dann nicht mehr gewahrt.
Eine sehr nachvollziehbare Position. Was aber dann?
Seit April 2021 beobachtet der Verfassungsschutz in Deutschland einen neuen Phänomenbereich namens „Delegitimierung des Staates“. Viele erinnert schon die Formulierung an die DDR, in der Regimekritik einen Knastaufenthalt in Bautzen nach sich zog.
Seit 2024 versucht die EU, mit dem Digital Services Act (DSA) gegen Desinformation im Netz vorzugehen. Auch in Deutschland werden dazu seither von der Bundesnetzagentur sogenannte Trusted Flagger registriert, die den Plattformbetreibern bevorzugt kritische Inhalte zur Löschung melden dürfen. Als dies bekannt wurde, tobten rechte Medien über vermeintliche Zensur.
Sie störten sich vor allem daran, dass so auch Inhalte unterhalb der Strafbarkeitsgrenze nach politischen Prämissen von den Plattformen gelöscht werden müssen. Diese Kritik kam vor allem von solchen Plattformen, deren Geschäftsmodell es ist, Hass, Hetze und Fake News zu verbreiten. Aber sie hat einen Punkt.
In Singapur fürchten viele nicht nur Desinformation aus China, sondern auch den Einfluss dschihadistischer Gruppen aus den islamischen Nachbarländern. Alles, was als Hetze gegen eine der Bevölkerungsgruppen verstanden werden kann, versucht man in Singapur zu ahnden – unter anderem mit dem POFMA.
77 Prozent der Bevölkerung bringen der Regierung Umfragen zufolge großes oder sehr großes Vertrauen entgegen. Auch wenn es keine wirklich unabhängigen Institute für diese Umfragen gibt, dürfte dieser Meinungstrend zutreffend dargestellt sein. Neue Regelungen, etwa zum Klima- oder Gesundheitsschutz kann die Regierung mit solchem Rückhalt in kürzester Zeit beschließen und durchsetzen.
Um die Gefahr der Destabilisierung im Netz einzudämmen, setzt Singapur auf einen rigorosen Kurs und bleibt so politisch handlungsfähig. Immer deutlicher zeigt sich aber, welche Risiken das birgt.
Am 12. Dezember 2024 veröffentlichte das Portal Bloomberg in Singapur einen Artikel des Investigativjournalisten Low De Wei. Darin beschrieb er zweifelhafte Immobiliengeschäfte, in die unter anderem ein amtierender singapurischer Minister und ein Ex-Minister verstrickt waren. Beide klagten gegen Bloomberg, gleichzeitig aber behauptete die Regierung, De Weis Artikel enthalte Unwahrheiten.
Die POFMA-Behörde wies Bloomberg – Platz 23 der größten Medienkonzerne weltweit, 13 Milliarden Dollar Umsatz – an, eine „Berichtigung“ über dem Artikel zu platzieren. Seit dem 23. Dezember steht auch dort nun: „Dieser Beitrag enthält falsche Tatsachenbehauptungen. Die richtigen Fakten finden Sie unter …“ und dann der Link zur Darstellung der Regierung. Die läuft darauf hinaus, dass an den Vorwürfen nichts dran sei und in der Regierung niemand etwas falsch gemacht habe. Ein Gerichtsurteil zu den Klagen der Minister gibt es bis heute nicht.
Der Fall von Low De Wei ist umso erstaunlicher, weil es eigentlich zum Selbstverständnis der PAP gehört, nicht die kleinste Toleranz bei Korruptionsverdacht zu zeigen. Im „Korruptionswahrnehmungsindex“ von Transparency International steht das Land weltweit auf Platz 3.
Parvathi sagt, sie habe „Angst vor Geldstrafen, die ich mir nicht leisten kann, und vor Gefängnisstrafen“. Noch mehr aber fürchte sie, was geschehe, wenn man „nicht für die Wahrheit“ eintrete. „Ich habe vor allem Angst, dass ich meinen moralischen Kompass verliere und meine Integrität verrate, wenn ich das nicht tue.“
Desinformation ist ihrer Ansicht nach vor allem deshalb ein Problem, weil traditionelle Medien und Online-Netzwerke „vom Großkapital und den politischen Eliten kontrolliert“ werden. Singapur sollte eine Warnung für jede Gesellschaft sein, deren Regierung Gesetze plant, die die Meinungsfreiheit auf diese Weise beeinträchtigen, sagt sie. Es sei gefährlich, „eine oberste Autorität für die Wahrheit“ zu akzeptieren und staatlichen Behörden die Entscheidung darüber zuzugestehen, „was wahr und was falsch ist“.
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