: „Nicht verbal bedrängen“
Der Psychiater Spilimbergo behandelt jugendliche Gewalttäter. Statt dauerhafter Unterbringung in geschlossenen Heimen fordert er eine umfassende Resozialisation
taz: Der mutmaßliche Mittäter an dem Mord von drei AfghanInnen ist ein Jugendlicher, möglicherweise ist er unter 14 Jahre alt. Er befindet sich momentan in einer psychiatrischen Einrichtung. Welche Erfahrungen haben Sie mit solchen Jugendlichen?
Anton Spilimbergo: Nicht selten liegt ein posttraumatischer Zustand vor, und der muss überwunden werden. Es können Verdrängungszustände und große Lücken des Erinnerungsvermögen vorliegen. Sehr wichtig ist es, den Jungen nicht verbal zu bedrängen.
Soll man ihn stattdessen in den Arm nehmen?
Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Aber: Die Ärzte müssen sich kurz nach der Tat um ganz einfache Bedürfnisse kümmern und tatsächlich eine gewisse körperliche Nähe anbieten. Sich zum Beispiel neben ihn setzen. Sehr wichtig ist es, dass man kein Gefühl der Empörung oder eine moralische Entrüstung zeigt, sondern eher einen gewissen Gleichmut. Sonst kann das Geschehen nicht verarbeitet werden.
Wie sieht die zweite Phase aus?
Der Jugendliche soll sanft dazu bewegt werden, über die Tat zu sprechen. Das sollte aber freiwillig geschehen. Bei Jüngeren kann man spielerische Mittel einsetzen. Es gibt tiefenpsychologische Verfahren, aber auch durch Malerei und Zeichnungen kann der junge Mensch etwas zum Ausdruck bringen. Darüber erfährt man meist mehr, als wenn er spricht.
Es ist nicht klar, ob der mutmaßliche Mittäter 13 oder 16 Jahre alt ist. Macht das in der Verarbeitung einer solchen Tat einen Unterschied?
Es geht dabei nicht so sehr um das Alter, sondern um die Reife. Im Lauf der Behandlung ist deshalb eine genaue Bestandsaufnahme der Reife notwendig. Je unreifer ein Mensch, desto hilfloser ist er gegenüber der Tat im Sinne der Verarbeitung.
Wenn der Junge aus der psychiatrischen Klinik entlassen wird und tatsächlich strafunmündig ist, welche Maßnahmen schlagen Sie vor, dass er resozialisiert wird?
Wichtig ist das Milieu und die Biografie des Täters. Falls er nicht psychisch krank ist, braucht er eine intensive pädagogische Zuwendung. Er braucht eine Anbindung an eine erziehende Person, muss wieder unter Gleichaltrige und schulisch gefördert werden. Was jedoch konkret gemacht wird, muss das Jugendamt entscheiden. Die Jugendhilfe hat die Pflicht zu untersuchen, ob beispielsweise die Familie das Kind wieder aufnehmen kann.
Die CDU fordert für jugendliche Stratäter geschlossene Heime. Ist das sinnvoll?
Sonderpädagogik, zum Beispiel Erlebnispädagogik auf einem Bauernhof, kann viel effektiver zur Resozialisation beitragen. Geschlossene Heime sind nur sinnvoll, wenn von dem Jugendlichen noch eine unmittelbare Gefährdung ausgeht. Die Aufenthaltsdauer sollte aber sehr kurz sein.
INTERVIEW: JULIA NAUMANN
Anton Spilimbergo ist Leiter der kinder-und jugendpsychiatrischen Abteilung Wiesengrund des Krankenhauses Reinickendorf
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