Neurologische Schädigungen: Umweltchemikalien bleiben toxisch
Die gesundheitliche Belastung durch Umweltgifte hat zwar insgesamt abgenommen. Doch eine Entwarnung kann es nicht geben – insbesondere nicht für Kinder.
MÜNCHEN taz | Das moderne Leben ist geprägt von einer ganzen Vielzahl an Stoffen. Nicht nur in der PET-Flasche und im Computergehäuse tummeln sich zahlreiche Chemikalien, auch die Zutatenliste von Lebensmitteln und Trinkwasser, Kosmetika, Kleidung, Möbeln oder Hausstaub ist lang – und für den Verbraucher jedoch meist nicht einsehbar.
Zwar wurden einige Schadstoffe in der Vergangenheit mit Erfolg verboten. So ist die Belastung der deutschen Bevölkerung laut Studien des Umweltbundesamtes (UBA) mit Blei, Arsen, Cadmium und Quecksilber sowie Polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK) gesunken. Auch Untersuchungen des Bundesinstituts für Risikoforschung (BfR) zeigen: Es finden sich heute circa 60 bis 95 Prozent weniger Schadstoffe in Frauenmilch als vor 20 Jahren, so etwa bromierte Flammschutzmittel, synthetische Moschusduftstoffe oder Dioxine.
Aber weitere Studien, wie der Kinderumweltsurvey des UBA, zeigen andererseits, dass sich Stoffe wie die Phthalate, die etwa Plastikspielzeug weich machen, in besorgniserregenden Mengen in Blut und Urin von Kindern finden. Auch die Schwermetallbelastung ist zwar gesunken, für einige Wissenschaftler jedoch immer noch zu hoch.
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) schrieb beispielsweise vergangenen Winter in einem Gutachten: "Der derzeitige Grad der Bleibelastung stellt ein geringes Gesundheitsrisiko für die meisten Erwachsenen dar. Es gibt aber Bedenken wegen möglicher Auswirkungen auf die neurologische Entwicklung von Kleinkindern."
Was genau diese Umweltkontaminanten im menschlichen Gehirn anrichten, wenn sie über Jahre auch in relativ geringen Dosen zugeführt werden, ist bislang kaum belegt. Nur 20 Prozent der marktbeherrschenden Alltagschemikalien wurden überhaupt auf ihre Neurotoxizität untersucht. Zudem ist der moderne Mensch einem ganzen Chemiecocktail ausgesetzt.
Verursacher von ADHS?
Ulf Sauerbrey, Erziehungswissenschaftler an der Universität Jena, fragte sich deshalb: "Könnte etwa das ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) durch Umweltgifte entstehen?" Und hat dazu in einem 2010 erschienenen Buch die gesamte Forschung zusammentragen. Sein Fazit: "Umweltgifte könnten eine wesentliche Ursache neurobiologischer Veränderungen des Nervensystems sein, die zur Diagnose ADHS führen."
Natürlich werden beim ADHS mehrere Ursachen für die Entstehung der Krankheit diskutiert. So gelten etwa eine bestimmte genetische Veranlagung oder auch Alkohol, Nikotin und Drogen, in der Schwangerschaft konsumiert, als Risikofaktoren für das Kind.
Auch Sauerbrey glaubt nicht, dass Schadstoffe alleine Kinder zum Zappelphilipp machen. Trotzdem ist er überzeugt: "Es gibt inzwischen ausreichend Studien, die zeigen, dass etwa Blei eine ähnlich große Rolle wie Rauchen in der Schwangerschaft spielt." Zudem gebe es Hinweise, dass auch Quecksilber ADHS begünstigen könnte ebenso wie die Phthalate. Polychlorierte Biphenyle (PCBs) und einige Pestizide verursachten immerhin Einzelsymptome der ADHS.
In einer Studie der Universität Bristol aus dem Jahre 2009 waren bei erhöhten, aber durchaus üblichen Bleiwerten im Blut antisoziales Verhalten und Hyperaktivität bei Kindern dreimal so häufig wie bei geringer Belastung. Über den Wirkmechanismus weiß man noch nicht viel.
Blei und Zebrafische
Erste Hinweise hat man aus Tierversuchen: So wies Stephen Devoto, Neurologe an der Rockefeller University, bereits im Jahr 2001 in Experimenten mit Zebrafischen nach, dass Blei den Dopamingehalt im Nucleus Accumbens, einer Region des Vorderhirns, im Vergleich zu Testgruppen erniedrigt - eine Auffälligkeit, wie sie auch bei ADHS als ursächlich angenommen wird.
Auch für andere neurologische Leiden gibt es immer mehr Hinweise, dass Schadstoffe beteiligt sind. Bei der Entstehung von Autismus könnten laut Philip Landrigan, Epidemiologe an der Mount Sinai School of Medicine, auch eine Blei- oder Quecksilberbelastung in der Schwangerschaft eine Rolle spielen.
Bei Alzheimer werden auch Schwermetalle als Mitverursacher diskutiert. Und zwar könnten durch die Schadstoffe vermehrt freie Radikale im Körper gebildet werden, die wiederum in Gehirnzellen, vor allem an den Mitochondrien Schaden anrichten und sie absterben lassen. Eine hohe Bleibelastung, wie sie in den 1960er Jahren üblich war, wird auch mit Schizophrenie in Verbindung gebracht.
Zudem könnten Umweltgifte auch Parkinson auslösen. So sind etwa die Bewohner der dänischen Färöer-Inseln besonders häufig von dieser Gehirnstörung betroffen.
Quecksilber im Fisch
Lene Wermuth, Neurologin am Odense Universitetshospital, vermutet, dass die traditionelle fischreiche Ernährung mit Wal- und Robbenspeck, reich an Quecksilber und PCB, als Auslöser für die Gehirnerkrankung in Frage kommt. Genetische Besonderheiten der Färinger machten die Inselbewohner zudem besonders anfällig.
Mark Noble, Neurologe von der University of Rochester, fand im Jahr 2007 einen Universalmechanismus, warum Schwermetalle in Mengen, wie sie in der Umwelt zu finden sind, dem Gehirn zusetzen können. Sie veranlassen eine Gruppe von Stammzellen im zentralen Nervensystem dazu, ihre Arbeit einzustellen. Dadurch können sich etwa bei kleinen Kindern nicht mehr ausreichend neue Nervenzellen und neue Synapsen zwischen den Zellen bilden.
Doch trotz all dieser Forschungsarbeiten haben Umweltgifte als Verursacher noch keinen Eingang in die Lehrbücher gefunden. "Die gegenwärtige ADHS-Forschung ist skeptisch, da sie Eltern und Betroffene nicht unnötig verunsichern möchte", berichtet Sauerbrey.
Möglicherweise hat hier auch die Chemieindustrie ihre Finger im Spiel. US-Forscher, die Umweltgifte auf ihre Gefährlichkeit untersuchen, berichten, sie seien massiv in ihrer Arbeit behindert worden.
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