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Neurologe in New York gestorbenOliver Sacks ist tot

Schriftsteller und Forscher, Oliver Sacks war beides zugleich. Auf sein Sterben hat er die Welt sorgfältig vorbereitet.

Der New Yorker Neurologe hat viel über Kapriolen des Gehirns geschrieben. Foto: dpa

London/New York dpa | Es war ein angekündigter Tod. Mit überwältigender Offenheit schrieb Oliver Sacks vor kurzem über das Sterben. Der Tod sei „nicht länger ein abstraktes Konzept“, schrieb er in der New York Times, sondern „eine Gegenwart – eine allzu nahe, nicht zu verneinende Gegenwart“. Am Sonntag starb Sacks in New York, wie die New York Times unter Berufung auf Kate Edgar, Sacks‘ langjährige persönliche Mitarbeiterin, berichtete.

Anfang des Jahres hatte der Hirnforscher erfahren, dass seine Leber von Metastasen befallen war, neun Jahre, nachdem man ihm einen Tumor am Auge entfernt hatte. Seinen 82. Geburtstag am 9. Juli habe er noch „mit Stil“ feiern können, schrieb er. Seinen 83. Geburtstag erlebt er – wie er erwartet hatte – nicht mehr. Der britische Guardian befand, Oliver Sacks habe die Menschen „die Kunst des Sterbens“ gelehrt.

Sacks war blind auf dem behandelten Auge und brauchte einen Stock zum Gehen. Doch der Wissenschaftler, der Bestseller wie „Zeit des Erwachens“ und „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ geschrieben hat, empfing noch im Frühjahr Patienten und gab das Schwimmen so lange nicht auf, wie es irgendwie ging.

Geboren wurde Sacks 1933 als Sohn eines jüdischen Ärztepaares in London. Er wuchs mit drei älteren Brüdern, die auch Ärzte wurden, in einem naturwissenschaftlich geprägten Haus auf. Später studierte er an verschiedenen Universitäten und machte Abschlüsse in mehreren Fachrichtungen, darunter einen Bachelor in Physiologie und Biologie sowie Medizin. Praktische Erfahrungen sammelte er unter anderem am Middlesex Krankenhaus in London, wo er sich der Neurologie zuwandte.

Schriftsteller von Überlebensgeschichten

1960 verließ Sacks Großbritannien, um Ferien in Kanada zu machen. Doch kurz nachdem er dort angekommen war, schrieb er seinen Eltern ein Telegramm. Darin stand nur ein Wort: „Bleibe“. Danach zog es ihn in die USA, zuerst nach Kalifornien, dann nach New York. Dort eröffnete er eine neurologische Praxis und arbeitete jahrzehntelang am Einstein College in der Bronx. Später war er an der New Yorker Columbia Universität tätig, wo er Seminare hielt und Patienten betreute.

In den 1970er Jahren begann Sacks, populärwissenschaftliche Bücher zu verfassen über Menschen, die durch eine Krankheit aus dem Raster der Gesunden gefallen sind. „Ich schreibe Überlebensgeschichten“, erklärte er einmal. „Geschichten davon, wie man mit diesen Krankheiten lebt.“ Sein literarischer Erstling „Zeit des Erwachens“ (1973), der von Opfern der „Europäischen Schlafkrankheit“ handelt, wurde ein internationaler Bestseller. Das Buch wurde später mit Robin Williams und Robert De Niro verfilmt.

Im Bestseller „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ (1985) erzählte Sacks in 24 Fallgeschichten, wie wenig genügt, damit Menschen aus der vermeintlichen Normalität fallen. Auch mit „Stumme Stimmen“ (1989), „Das Innere Auge“ (2011) und „Drachen, Doppelgänger und Dämonen: Über Menschen mit Halluzinationen“ (2013) war der Hirnforscher erfolgreich. Erst in diesem Jahr ist seine sehr persönliche Autobiografie „On the Move“ erschienen.

Auf Glückssuche in den USA

Hauptfiguren in seinen Büchern sind Patienten, Freunde, Familienmitglieder oder er selbst. Mit den Fallgeschichten, die witzig und einfach geschrieben sind, stellt Sacks die eigene Normalität immer wieder infrage. „Eine winzige Hirnverletzung, und wir geraten in eine andere Welt“, erklärte er einst.

Bis zur Veröffentlichung seiner Autobiografie war über das Privatleben des vielleicht bekanntesten Neurologen der Welt eher wenig bekannt. Auch „On the Move – Mein Leben“ war wieder voller Fallbeschreibungen und Patientengeschichten. Aber Sacks gab darin auf berührende Weise Einblick in sein langes, beruflich erfolgreiches und privat oft einsames Leben.

Als er sich als Jugendlicher im England der 50er Jahre im Elternhaus zu seinem Schwulsein bekannte, muss er sich von seiner eigenen Mutter anhören, dass er „ein Gräuel“ sei: „Ich wünschte, du wärst nie geboren worden.“ Bald verließ er sein Elternhaus und England, um in Kanada und schließlich in den USA sein Glück zu suchen. Dort lebte er bis zu seinem Tod.

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