Roman über alte und junge Väter: Das Gebiss entspannen

Sein eigener Vater lieferte Paul Brodowsky kein gutes Vorbild. Wie viel Wut färbte auf ihn selbst ab? Der so schroffe wie ehrliche Roman „Väter“.

Paul Brodowsky steht am geöffneten Fenster einer Altbauwohnung

Vom Suchen und Finden der Vaterrolle: Paul Brodowsky in seiner Arbeitswohnung Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Unter den Brodowsky-Geschwistern im Roman „Väter“ kursierte in der Kindheit ein Code-Begriff für die Wutanfälle des Vaters: das „Schafe schlachten“. Als unauffällige Warnung vor dem Aggressionsgewitter, das sich willkürlich entladen konnte („Nicht, dass dann wieder Schafe geschlachtet werden“) oder als Formel, die man sich entnervt zuraunte, wenn es gerade wieder passiert war („Vorhin wurden deshalb wieder Schafe geschlachtet“).

Wenn der Vater Schafe schlachtete, dann verzog sich das Gesicht zur sogenannten Vatergrimasse, dann wurde der Kiefer aufeinandergepresst und die Luft scharf eingesogen; dann wurde nicht gesprochen, sondern gebellt.

Als Paul Brodowsky, der Ich-Erzähler, von den acht Geschwistern der jüngste, selber Vater ist, will auch sein Gesicht sich immer wieder in diese Grimasse hineinlegen. Wenn der sechsjährige Milan ihn zur Weißglut bringt, eine Schraube festgerostet ist, wenn ein Bekannter irgendwas Rechtes auf Facebook postet. Dann erschreckt er, denkt „die Vatergrimasse!“ und versucht das malmende Gebiss zu entspannen.

Für Paul Brodowsky, den realen, war diese Wut, die er an sich selbst entdeckte, einer der Erzählmotoren für „Väter“. An einem Mittwoch sitzt er jetzt in seiner Arbeitswohnung am Berliner Maybachufer, ein Zimmer, funktional-studentisch, tropfender Wasserhahn, bisschen zugig, alter Mietvertrag.

Paul Brodowsky: „Väter“. Suhrkamp, Berlin 2023, 302 Seiten, 24 Euro

Jahre auf der Napola

Der 42-Jährige hat einen Roman geschrieben, seinen ersten, über einen Mann namens Paul Brodowsky, zweifacher Vater und Sohn eines Professors, aufgewachsen mit vielen Geschwistern in Schleswig-Holstein; ein in Neukölln lebender Dramaturg und Dozent an der Uni, der, als sein erstes Kind zur Welt kommt, beginnt, sich mit der Kindheit des eigenen Vaters auseinanderzusetzen. Ihn über einen langen Zeitraum hinweg interviewt zu seinen Jahren in der Napola, der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt, an der Jugendliche während des „Dritten Reiches“ zur künftigen NS-Elite herangezogen werden sollten. Der herausfinden will, wie die Traumata seines Vaters ihn selbst geprägt haben, und über diese Unternehmung einen Roman schreibt.

So weit, so meta, denn all das trifft auch auf den realen Paul Brodowsky zu, was es ein bisschen hakelig macht, Fragen über ihn und das Buch zu stellen: dem Ich-Erzähler aus „Väter“ also nicht ständig die Fiktion abzusprechen oder voreilige Schlüsse auf Vita und Psyche seines Erfinders zu ziehen. Der Roman ist „fiktionalisiert und subjektiviert“, so Brodowsky, manches weit weg und verfremdet, einiges nah dran und womöglich genauso gewesen.

Mit der Entscheidung, dem Romanhelden den eigenen Namen zu geben, wollte Brodowksy „Väter“ einerseits als eindeutig autofiktionalen Stoff kennzeichnen, andererseits versuchen, möglichst „schroff, offen und ehrlich“ zu sein, insbesondere, wenn es um die Täter-Vergangenheit seiner Familie geht: Paul Brodowsky ist nach seinem Großonkel benannt, NSDAP-Funktionär und derjenige, der seinen Vater seinerzeit zur Napola schickte.

Für den Ich-Erzähler, wie auch für Paul Brodowsky, verändert die Geburt des ersten Kindes die Art und Weise, wie sie sich selbst in der Zeit verorten. War das Leben vorher in leicht verdauliche Wochen- und Jahresrhythmen eingeteilt, ohne Notwendigkeit, den Blick weit in die Zukunft oder in die Vergangenheit zu richten, denkt der 30-jährige Brodowsky mit Neugeborenem im Arm plötzlich in Generationen. Rechnet 30 Jahre vor und 30 Jahre zurück und nochmal zurück, ist beim Jahr 1950, das nur 30 Jahre vor seiner eigenen Geburt liegt, fünf Jahre nach Ende des Nationalsozialismus.

Geröll der Nachkriegszeit

„Ich glaube, dass mit dieser neuen Zeitwahrnehmung auch eine neue Art von Verantwortung und Politisierung einhergeht“, sagt Paul Brodowsky. Eine Auseinandersetzung damit, was die eigenen Eltern an „unbeleuchtetem Geröll“, wie es im Roman heißt, aus der Kriegs- und Nachkriegszeit mit sich herumtragen, und wie einen dieser „Schutt und Schlamm“ beim Aufwachsen geprägt hat. Was davon sich vielleicht festgesetzt hat in einem selbst. Und wie man es loswird. Womit wir wieder bei der Wut wären.

Mit der Vaterschaft enden für den Paul Brodowksy im Buch die Jahre des „emotionalen Mezzo“. Die späte Jugend, die Zwanziger, in denen er zwar starke Gefühle durchlebte, aber eben nicht die großen Erschütterungen, die „kalte gedeckelte Wut“, die irgendwann umschlägt in Schreien und den Drang, auf etwas einzutreten.

Die Mezzojahre sind für den Ich-Erzähler eine Phase der sich öffnenden, sich ihm zuwendenden Welt, in der dem jungen Mann aus gutbürgerlichen Verhältnissen alles nur so zuzufallen scheint. Eigene Theaterinszenierungen an der Schule, ein Platz im Schreibstudiengang in Hildesheim, erste Veröffentlichungen seiner Texte.

Dass all das so kommen musste, wird ihm schon als Kind vermittelt, in der Familie herrscht eine Art Überlegenheits-Denke, der „Brodowsky Exceptionalism“, dessen Ursachen sich der Ich-Erzähler mit den Vater-Interviews annähern will.

Ringen um die Care-Arbeit

Der echte Paul Brodowsky in seiner Arbeitswohnung am Maybach­ufer sehnt sich nicht zurück in dieses „halbbewusste Selbstbewusstsein“ vor dem ersten Kind, in dem für ihn fast schon ein „kolonisatorischer Gestus“ lag, so was „Welteroberndes und Ungebrochenes“, heute findet er das erschreckend.

Der neue emotionale Ausnahmezustand als Vater hängt für ihn auch mit dem permanenten Ringen um faire Aufteilung der Care-Arbeit zusammen, dem Versuch, zwischen alldem beruflich weiterzukommen und natürlich für die Kinder da zu sein, und zwar auf eine andere Weise als der eigene Vater.

Im Buch gibt es seitenlange Strecken, auf denen Paul und seine Partnerin Judith sorgsam Kita-Übergaben und Arztbesuche vorausplanen, nur damit diese Alltags-Choreografien im Anschluss in sich zusammenfallen, weil beispielsweise das Schloss des Lastenrads kaputtgeht.

Dazwischen versucht der Ich-Erzähler herauszufinden, welcher Vater er eigentlich sein will. Zur Orientierung nutzt er überwiegend die Unzulänglichkeiten des eigenen, er seziert, was der falsch machte, und zieht daraus seine Schlüsse. Haben Gegenwartsväter keine Positiv-Vorbilder? Finden sie ihre Rolle nur über Abgrenzung?

Momente der Erkenntnis

Schon als Kind habe Paul Brodowsky für sich entschlossen, nie zu werden wie der eigene Vater, und das sei natürlich ein starker Gedanke, aber „daraus entsteht ja erst mal kein Handlungsgerüst, man befindet sich wie auf einer leeren Ebene“. Trotzdem habe Vaterschaft für ihn ganz viel mit „Unlearning“ zu tun, also familiäre Dynamiken, mit denen man aufgewachsen ist, zu erkennen und abzubauen.

Im Roman resultieren daraus Momente der Erkenntnis: Wenn der Ich-Erzähler im Streit mit den Kindern droht, aus dem Haus zu gehen, die beiden allein zu lassen, dann merkt er, dass sie mit existenzieller Angst darauf reagieren – und nicht mit Erleichterung, so wie er selbst, als er Kind war und sein Vater einfach abhaute.

Je länger der Ich-Erzähler an seinem Romanprojekt arbeitet, desto naturgewaltiger werden die Metaphern, mit denen er es beschreibt: Mal muss er sich hineinbegeben in ein Bergmassiv, das Faltengebirge überqueren oder in dunkles Wasser der Ostsee abtauchen. Und auch für die Leserin ist „Väter“ eine herausfordernde Expedition, auf der man die Route hin und wieder hinterfragt – besonders wenn sich das Gefühl einschleicht, verlorenzugehen, zwischen Jugenderinnerung, Gegenwartsanekdote, akademischer Analyse von Machtphantasmen und historischer Aufarbeitung der Familienvergangenheit. Oder der Ich-Erzähler allzu waghalsige Parallelen zieht zwischen dem toxischen Männerbild, das seinem Vater eingeimpft worden sein muss, und ihm selbst.

Als er etwa wie im Wahn eine wild gewordene Katze aus dem Haus zu jagen versucht und darin meint „die gleiche kalte Wut“ der „Täter bei Pogromen“ wiederzuerkennen. Da wünscht man ihm, das Projekt einfach fallenzulassen, den Vater in seiner Unerschütterlichkeit in Frieden zu lassen, denn dass der sich auf die Aufarbeitungssitzungen mit seinem Sohn nur minimal einlassen wird, ist schon früh klar.

Suchen und Finden einer Rolle

„Väter“ ist dann am stärksten, wenn man dem Helden beim Suchen und Finden seiner Rolle in der eigenen kleinen Familie zuschauen darf, seinen Bemühungen, den Kindern nicht als Mann, sondern Mensch präsent zu sein und ihnen irgendwann mal möglichst wenig „unbeleuchtetes Geröll“ zu hinterlassen.

Die Gnadenlosigkeit seinem Vater, dem Patriarch, gegenüber ist phasenweise schwer zu ertragen und wird nur gelindert durch die Härte, mit der er sich selbst analysiert und das eigene Alltags-Klein-Klein ausstellt. Wobei der Ich-Erzähler jede noch so absurde Szene mit den Kindern in einer solchen Ernsthaftigkeit referiert, dass man sich manchmal fragt, wo eigentlich der Humor geblieben ist.

Doch ist diese Ernsthaftigkeit auch rührend und Kern des Romans. Brodowsky versucht beim Thema Vaterschaft nicht ansatzweise, Lächerlichkeiten aufzuspüren, sein Protagonist ist dead serious, wenn er Erziehungsstreitigkeiten mit der Schwiegermutter nacherzählt oder das Zubettbringen der Kinder beschreibt. Und tatsächlich ist das Nichtvorhandensein jeglicher Ironie hier auf eine eigene Art erfrischend.

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