Neues Theater: Vorhang auf für Siegen
Nach langer Diskussion und viel Engagement bekommt die Stadt Siegen ihr eigenes Theater. Eine Geschichte über Kunstsinn in Zeiten knapper Kassen.
SIEGEN taz Dass Magnus Reitschuster auf seiner Theaterbühne stehen und 250 Zuschauern das Bühnenbild für die September-Inszenierung der "Iphigenie auf Tauris" erklären kann, ist ein kleines Wunder. Andere finden, das sei eher ein Fall für den Bund der Steuerzahler. Aber die sind jetzt nicht hier, im Saal des neuen Apollo-Theaters in der Siegener Innenstadt. Noch nie hat es in der Geschichte Siegens im Süden Nordrhein-Westfalens ein Schauspielhaus gegeben, gespielt wurde in der Aula des städtischen Löhrtor-Gymnasiums. Aber nun soll es tatsächlich eröffnet werden, das neue Theater.
Das Haus: Das Theater Siegen eröffnet am Freitag seine Spielzeit im neuen Haus. Intendant des Hauses mit 520 Plätzen ist Magnus Reitschuster, 55.
Die Kosten: Der Neubau hat das Land Nordrhein-Westfalen, den Kreis Siegen-Wittgenstein und die Stadt 15 Millionen Euro gekostet. Für den laufenden Betrieb wird die Kommune jährlich 700.000 Euro zuschießen, 400.000 kommen von einer Stiftung.
Das Publikum: 50 Jahre haben die Siegener diskutiert, ob sie ein Theater brauchen und, wenn ja, ob sie es sich leisten können. Seit vor acht Jahren der Neubau beschlossen wurde, haben die Bürger fleißig gespendet und sich für das Projekt engagiert. Von den 520 Plätzen hat der Förderverein 100 an Privat- leute verkauft, für 1.000 bis 5.000 Euro pro Sessel.Der Spielplan: Das Apollo bietet Schauspiel, Konzerte und Musiktheater. Die erste Aufführung ist am Freitag um 14 Uhr "Die verzauberten Brüder", zu der nur Kinder Zutritt haben.
Fünfzig Jahre lang haben sie sich in der Industriestadt darüber gezankt, ob sie ein Theater brauchen oder nicht. Ob sie es sich leisten können. Jahrzehntelang haben sie die immer gleichen Argumente ausgetauscht: Eine Unistadt, Oberzentrum für die Region, ohne Theaterhaus - das ginge nicht, fanden die einen. Siegen habe weder Geld noch Publikum dafür, meinten die anderen. Doch dann kam vor acht Jahren Magnus Reitschuster, der Dramaturg aus Nürnberg, als Intendant hierher. Er traf auf Walter Schwerdfeger, den Lokalpatrioten. Und dann gab auch noch der Kinokonzern Ufa das alte Lichtspielhaus am Ufer der Sieg auf. Da war sie, die Chance auf ein eigenes Theater.
Reitschuster, runde Brille, Wuschelfrisur, spricht über das Apollo wie ein Bauherr über sein Eigenheim. Seit Mai lädt er immer samstags zur Besichtigung. Die Siegener kommen in Massen, jedes Mal strömen 250 Neugierige durch die verglasten Pforten des ehemaligen Kinos. Das Haus wurde 1936 gebaut und diente damals als größter Saal Siegens auch den örtlichen Nazis als Veranstaltungsort. Von dem Kino steht heute nur noch die Fassade, dahinter erstreckt sich der Neubau. Die Besucher lassen sich das nüchterne Foyer in weiß und schwarz zeigen, sie klettern die Wendeltreppen links und rechts hinauf und schieben sich in den Saal, 520 rot gepolsterte Sitze, ein Lattenmuster an den Wänden und unten: die Bühne.
Auf der steht Reitschuster, zwischen Pappfelsen und Sandhaufen, die mal eine mediterrane Insellandschaft ergeben sollen. Er sagt: "Mit diesem Theater hier haben wir nun in Siegen die Taube in der Hand." Oder: "Ich bin hier, weil ich hier etwas bewegen kann." Spricht man öfter mit ihm, hört man diese Sätze immer wieder. Sie sind einprägsam, er muss sie oft gesagt haben in den vergangenen acht Jahren. "Die ganze Stadt schaut auf dieses Theater" ist auch so ein Satz. 1.400 Mitglieder hat der Förderverein des Apollo heute. Der örtliche Fußballclub, die Sportfreunde Siegen, bringen es auf knapp tausend.
"Als ob da in der Bevölkerung plötzlich die Theaterbegeisterung ausgebrochen wäre", schnaubt Dieter Rohr. Bis vor vier Jahren war er für die Grünen Kulturdezernent in Siegen, und in dieser Funktion hat er das Theaterprojekt vehement bekämpft. Noch heute, als Geschäftsführer einer Kultureinrichtung im sächsischen Chemnitz, schimpft er, die Geschichte des Apollo sei "eine Geschichte der Geldverschwendung". Der mächtigen Sparkasse, direkte Nachbarin des Theaters, sei lediglich an einer Umfeldverbesserung gelegen gewesen. "Die haben große Teile der Innenstadt aufgekauft", sagt Rohr, "und dann die öffentliche Hand mit Zuckerbrot und Peitsche an ihre Seite gezwungen." Siegen hätte seinen knapp bemessenen Kulturetat lieber in die Stadtbibliothek oder das Archiv stecken sollen, auf keinen Fall in dieses Theater. Im Übrigen sei der Intendant ein "begnadetes PR-Genie, mehr aber auch nicht".
Der 55-jährige Reitschuster lässt sich von Kritikern wie Rohr nicht beirren. Gerade beschreibt er seinem künftigen Publikum in sanftem Fränkisch die Akustik des Raumes - "fantastisch, ohne rechte Winkel" -, er verweist auf die Bühnentiefe - "15 Meter, sogar die Schaubühne aus Berlin kann kommen" - und erklärt die Geschichte des Gebäudes. 15 Millionen Euro hat das weiß strahlende Bauwerk das Land, den Kreis und die Stadt gekostet. Für den laufenden Betrieb wird die Kommune jährlich 700.000 Euro zuschießen, 400.000 kommen von einer Stiftung aus privaten Geldern. Sollte der Haupt- sponsor Sparkasse einmal austeigen, würde es sehr eng.
"Das wäre dann das Horrorszenario", sagt Stadtbaurat Joachim Bruns. Er ist vonseiten der Stadt für den Bau verantwortlich und beschreibt seine Gefühlslage in Bezug auf das Apollo als "mit gebremstem Schaum glücklich". Natürlich sei das Haus eine Bereicherung, "immerhin wünscht man sich hier seit dem Kriege ein Theater". Aber, gibt er zu bedenken, für das Grundstück sei ein Erbpachtvertrag über 99 Jahre abgeschlossen worden, "eine finanzielle Verpflichtung für drei Generationen."
Siegen ist Haushaltssicherungsgemeinde - also pleite. Wegen der trüben Finanzlage war der Stadtrat lange gespalten in Bezug auf das Theater, 1980 hatte er schon einmal mit einer Stimme Mehrheit gegen einen Neubau votiert. Aber das ist nun auch schon lange her. Für die Idee Schwerdfegers und Reitschusters hatten Rat und Verwaltung lange Zeit gar nichts übrig. "Aber wenn die richtigen Leute mit dem richtigen finanziellen Hintergrund zur rechten Zeit zusammenkommen", seufzt Brune, "kann man kaum noch was machen."
"Ach, der Brune", sagt Walter Schwerdfeger und lächelt milde. Er könnte sein Theater vom Büro aus sehen, nur 300 Meter sind es bis zur Morleystraße. Aber sein Schreibtisch steht falsch herum, und so guckt Schwerdfeger auf einen Parkplatz. Dabei hat der 62-jährige ehemalige Besitzer eines Teppich- und eines Bettengeschäfts in den vergangenen acht Jahren nichts anderes im Kopf gehabt als eben jenen Bau. Er ist nicht, wie viele Siegener, die 100 Kilometer nach Köln gefahren, um mal in die Oper zu gehen. "So kulturbegeistert bin ich nicht", sagt er. Ein Theater sei ein "weicher Standortfaktor", schließlich habe man hier mittelständische Industrie von Geltung, "da sind Weltmarktführer drunter. Denen muss man doch was bieten." Siegen sei lange von "Verhinderungsstrategen und Bedenkenträgern" dominiert worden, die Zusammenarbeit mit der Stadt, das sei ein "ganz sensibles Thema". Irgendwann habe es ihm gereicht, und er habe beschlossen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. "Ich bin hier geboren, ich lebe gerne hier, die Einwohner der Stadt haben mir als Kunden meine Existenz ermöglicht." Er wollte ihnen etwas zurückgeben. Ein Theater.
"Hunger nach Theater"
Von der ewig klammen Stadt konnte Schwerdfeger nichts erwarten. Heute sitzt er sowohl dem Trägerverein vor, der das Theater betreiben soll, als auch der Stiftung, die es langfristig finanziert. Als er und Reitschuster loslegten, galt es, Verwaltung und Stadtrat von dem Projekt zu überzeugen und zugleich die Finanzierung zu organisieren. "Ich hab mir morgens unter der Dusche überlegt, wem ich noch Geld aus der Tasche ziehen könnte", sagt er, "auf Partys sind mir bald alle aus dem Weg gegangen, weil ich ständig gebettelt habe." Schwerdfeger ging auf die richtigen Partys. Im Siegerland gibt es einen gesunden Mittelstand, Maschinen-, und Anlagenbau, da ist was zu holen. Und der kleine Mann im anthrazitfarbenen Dreiteiler gehört dazu. Also sammelte er Sponsoren ein - große, wie die Siegener Sparkasse oder die Besitzerin der Krombacher Brauerei, und viele, viele kleine. Er startete Initiativen wie "Uni für Apollo", "Chöre für Apollo" oder "Frauen für Apollo", organisierte Weihnachtsmarktstände und Sekttheken, verscherbelte einzelne Theatersessel für 1.000 bis 5.000 Euro pro Stück, hundert ist er schon los. Neben Familien- und Firmennamen haben sich einige Käufer nun mit Bibelsprüchen verewigt: "1. Samuel, 16,7" steht da auf den Messingschildern an der Lehne, oder "Lukas 12,16-21".
Wegen der langen "Auszehrung", sagt Magnus Reitschuster, gebe es in der Stadt einen riesigen "Hunger nach Theater". Den will er ausnutzen. Er wirbt und lockt für sein Programm, wenn die Besucher samstags sein Haus besichtigen. Schwärmt von der "Nora"-Inszenierung von Schaubühnenintendant Thomas Ostermeier, die er eingekauft hat, von "Die fetten Jahre sind vorbei" des Staatstheaters Mainz oder von "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" des Deutschen Theaters in Wien. Ein festes Ensemble wird das Apollo nicht haben, nur zwei, drei Stücke will Reitschuster pro Spielzeit selbst inszenieren.
Darunter auch die "Hommage an Adolf Busch". Der Siegener war ein berühmter Geiger, der sich weigerte, in Nazi-Deutschland aufzutreten und in die USA emigrierte. Reitschuster hat die Geschichte in "Busch-Brüder oder Die Heimkehr" verarbeitet.
Der Hausrundgang ist beendet, die Neugierigen sind durch die Glaspforten hinausgetrappelt, Reitschuster plumpst in seinem Büro in den Drehsessel. "Wenn Sie ein Haus bauen, haben Sie ein anderes Bewusstsein als ein Künstler", sagt er und dass er sich jetzt wirklich auf die Arbeit als Intendant freut. An der Wand hängt das Foto von einem alten Mann, der mitten in einer Geröllhalde sitzt und Gitarre spielt. " 'Künstler in der Wüste' heißt es", sagt Magnus Reitschuster und grinst. Am Freitag wird das Apollo-Theater in Siegen eröffnet.
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