Neues Sicherheitzgesetz in der Türkei: Mehr Macht für die Polizei
Die Gesetzesvorlage schränkt Demonstrationsrechte weiter ein. Die türkische Opposition ist sich einig: Sie will die Verabschiedung unbedingt verhindern.
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ISTANBUL taz | Noch in dieser Woche will die türkische Regierung im Parlament ein neues Sicherheitsgesetz verabschieden lassen. Damit wird das Land nach Ansicht der Opposition endgültig zu einem Polizeistaat.
Wird es in der vorliegenden Form verabschiedet, ist das Demonstrationsrecht in der Türkei praktisch abgeschafft: Jeder Provinzgouverneur darf dann Proteste aus eigener Machtvollkommenheit verbieten. Finden sie trotzdem statt, drohen den Teilnehmern drakonische Strafen.
Selbst die Teilnahme an genehmigten Kundgebungen kann gefährlich sein. Es gilt grundsätzlich ein Vermummungsverbot, schon ein Schal im Gesicht kann zu einer Anklage führen. Außerdem soll die Polizei weit schneller als bislang von der Schusswaffe Gebrauch machen können.
In der ersten Debatte am Mittwoch waren sich alle drei Oppositionsparteien – trotz sonstiger großer Gegensätze – einig, dass der Türkei eine Katastrophe bevorsteht, wie es der Vorsitzende der rechtsnationalistischen MHP, Devlet Bahceli, formulierte.
Böse Erinnerungen
Auch der Vorsitzende der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, Kemal Kilicdaroglu, ist höchst alarmiert: „Mit diesem Gesetz“, sagte er, „fällt die Türkei zurück in die dunkelsten Zeiten nach dem Militärputsch 1980. Die zusätzliche Macht für die Polizei, Geheimdienste und Exekutive würde die Bürgerrechte praktisch abschaffen.“
Mit dem neuen Paket an Sicherheitsgesetzen wollen Präsident Tayyip Erdogan und sein Ministerpräsident Ahmet Davutoglu eine neuerliche Protestbewegung, wie sie 2013 in Istanbul gegen die Bebauung des Gezi-Parks entstanden war, unmöglich machen.
Die von der Regierung eingesetzten Gouverneure in jeder Provinz werden nun ermächtigt, von sich aus den Ausnahmezustand zu verhängen. Sie können dann direkt die Polizei anweisen und die Justiz zumindest vorübergehend ausschalten.
Wie damals nach dem Putsch soll die Polizeihaft auf 48 Stunden verlängert werden, bevor ein festgenommener Demonstrant dem Haftrichter vorgeführt werden muss. Gerade in diesen 48 Stunden war es in der Türkei in den 80er Jahren immer wieder zu Folter in Polizeihaft gekommen. Die Befugnisse des Geheimdienstes sind bereits im letzten Jahr erheblich ausgeweitet worden (Abhören nach Gutdünken ist jetzt offiziell erlaubt). Die Regierung versucht zudem das Internet unter Kontrolle zu bringen. Mit dem neuen Sicherheitsgesetz wird der Protest gegen die Regierung auch auf der Straße praktisch unmöglich gemacht.
Nicht nur gegen Gezi-Bewegung
Erdogan will so die Voraussetzungen schaffen, um nach der Gezi-Bewegung auch die islamische Gülen-Bewegung, die angeblich seine Herrschaft bedroht, endgültig auszuschalten. Jetzt ist sich die gesamte parlamentarische Opposition zum ersten Mal seit Jahren einig: Alles müsse versucht werden, um das Gesetz zu verhindern.
Da die regierende AKP die absolute Mehrheit besitzt und Erdogan bekannt dafür ist, Abweichler in den eigenen Reihen drakonisch abzustrafen, wird das Gesetz im normalen parlamentarischen Vollzug kaum aufzuhalten sein.
Der Vorsitzende der kurdischen HDP, Selahattin Demirtas, ruft seine Abgeordnetenkollegen und seine Anhänger deshalb dazu auf, die Verabschiedung auch mit unkonventionellen Methoden zu verhindern oder aber zumindest hinauszuschieben. „Lassen Sie uns das Parlament blockieren“, rief er die Abgeordneten von CHP und MHP auf, „lassen wir es nicht zu, dass diese Vorlage Gesetz wird“.
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