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Neues Buch über Michel HouellebecqIm Kaputten liegt eine Anklage

Niemand kennt die tödliche Tiefenwirkung des Kapitalismus so wie Michel Houellebecq. Das ist die Kernthese von Bernard Maris.

Ach, ließe sich der Kapitalismus doch wegqualmen: Michel Houellebecq. Foto: dpa

Michelle Houellebecq steht unter Polizeischutz. Bernard Maris, Wirtschaftswissenschaftler, Journalist und Autor, ist tot. Ermordet beim Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris am 7. Januar, am Tag als die Wochenzeitung mit Michel Houellebecq auf dem Titel erschien.

Maris, Mitgründer und als „Oncle Bernard“ Wirtschaftskolumnist von Charlie Hebdo, war mit Frankreichs aufreizendstem Literaten befreundet. Sein Essaybuch, „Michel Houellebecq, Ökonom“, erschien auf Französisch kurz vor dem Attentat, nun ist die deutsche Übersetzung da.

Die Houellebecq-Lektüre eines in Deutschland eher unbekannten radikalkeynsianischen Kapitalismuskritikers, der im Wissenschaftsrat von Attac und im Aufsichtsrat der Banque de France saß, hätte unter anderen Umständen vermutlich weniger interessiert.

Dessen ungeachtet, ist es bemerkenswert, dass Maris der erste Ökonom ist, der in dem Schöpfer der kaputtesten Figuren der europäischen Gegenwart einen kompetenten Wirtschaftsexperten erkennt. Auch wenn das für einen Kapitalismuskritiker nicht überraschend ist, überrascht Maris mit einer steilen Behauptung: Er nennt Houellebecq den „ersten Schriftsteller, dem es gelungen ist, das ökonomische Unbehagen, das unser Zeitalter vergiftet, exakt zu erfassen“.

Spott für Experten

Wer wirklich etwas von Wirtschaft und ihrer menschenfeindlichen Zerstörungskraft verstehen wolle, der müsse Houellebecq lesen, sagt Bernard Maris.
taz.am wochenende

Heidenau war ein Fanal für die rechtsextreme Szene: Es geht wieder was. Einen Essay über die Welle rechten Terrors lesen Sie in der taz.am wochenende vom 29./30. August 2015. Mehr zur Flüchtlingskrise: Unsere Reporterin begleitete eine syrische Familie beim Grenzübertritt nach Mazedonien. Außerdem: Ein Franz-Josef-Strauß-Alphabet zum hundertsten Geburtstag. Und: Leben mit Alzheimer. Als seine Ärztin Norbert Heumann von einer neuen Studie erzählt, klammert er sich an eine vage Hoffnung. Nicht zuletzt: Ein Besuch in Wiens berühmtester Imbissbude. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Was für Houellebecq, den die einen für einen Visionär, die anderen für einen Menschenfeind halten, die Medien und die Politik sind, ist für Maris der Wirtschaftsexperte. Etwas, das es ohne Einschränkung zu verspotten und zu verachten gilt. Seinem Essay stellt er eine erfrischende Ökonomenschelte vorweg: „Ökonom ist derjenige, der stets in der Lage ist, ex post zu erklären, warum er sich einmal mehr geirrt hat“, schreibt er.

Die Wirtschaftswissenschaft sei „ideologische Scharlatanerie“, „Hirngespinst“, „mit Gleichungen aufpoliertes Geschwätz“, die man nicht verstehen könne, weil es nichts zu verstehen gäbe. Wer wirklich etwas von Wirtschaft und ihrer menschenfeindlichen Zerstörungskraft verstehen wolle, der müsse Houellebecq lesen. In jedem seiner Romane würden die relevanten Aspekte bearbeitet: Liberalismus und Wettbewerb in „Ausweitung der Kampfzone“, Herrschaft des Individualismus und Konsumrausch in „Elementarteilchen“, Angebot und Nachfrage nach Sex in „Plattform“, der infantile Konsument in „Die Möglichkeit einer Insel“, die immer kürzere Lebensdauer der Produkte in „Karte und Gebiet“.

Anhand von Arbeitslosen- oder Absatzzahlen, Börsen- oder Unternehmenskursen sei die Funktionsweise des Kapitalismus nicht zu begreifen. Bei Houellebecq hingegen könnten die Folgen von „krankhaftem Wettbewerb, freiwilliger Knechtschaft, Angst, Lust, Fortschritt, Einsamkeit, Obsoleszenz“ nachvollzogen werden, allesamt Herrschaftstechniken, die – typisch französischer Vergleich – auch in den Konzentrationslagern gewirkt hätten. Unsicherheit und Angst seien nicht nur Pfeiler von Ancien Régimes und Diktaturen, sondern auch des Kapitalismus. Angst, die in Form der Schweißperlen auf Brunos Stirn in „Elementarteilchen“ sichtbar würden und in der holprigen und sperrigen Sprache der Manager und Führungskräfte in „Ausweitung der Kampfzone“.

Die tödliche Tiefenwirkung des Kapitalismus mache Houellebecq da am deutlichsten, wo seine Figuren an der Liebe scheitern, oder präziser, wenn sie merken, dass sie aufgrund der Gier nach Geld und Anerkennung verlernt hätten zu lieben. So wie Valérie in „Plattform“. Sie bekennt, in „ein System verstrickt“ zu sein, das sie gern für ihren Geliebten verlassen würde, aber sie weiß nicht wie. „Es ist zu spät. Sie ist Führungskraft geworden.“

Der Individualismus, vom Liberalismus als Freiheit verkauft, sei der „einzige Luxus“, den man sich noch gönne: von niemandem abhängig zu sein. Dieser aber sei keine Freiheit zum Glück, sondern zerstöre jegliche Kollektivität und damit jede Fähigkeit, andere zu lieben. Glück gebe es nur noch als quantifizierbare Größe auf der „x-Achse (Geld) und die y-Achse (Vernunft)“.

Leidenschaftlicher Furor

Manchmal nervt der leidenschaftliche Furor von Maris’ Hass gegen den Liberalismus. Seine Systembeschreibung ist zu wenig offen, um das von ihm und Houellebecq geforderte „Atmen“ überhaupt noch denkbar zu machen. Den Klebstoff, mit dem uns der Kapitalismus verführe, arbeitet er zu wenig aus dem Material Houellebecqs heraus. Sein Buch ist mehr ein Pamphlet, in dem er seine eigene Weltsicht beschreibt, die er mit Zitaten aus Houellebecq-Romanen belegt. Das ist schade.

Maris' Buch

Bernard Maris: „Michel Houellebecq, Ökonom“. A. d. Französischen Bernd Wilczek. Dumont, Köln 2015, 142 S., 18,99 Euro

Denn die Ansätze, Houellebecqs Prosa als Anklage und nicht als Zynismus zu lesen, sind hochinteressant. Maris‘ Absicht lag offenbar eher in einem Freundschaftsdienst: den Autor von seinem Ruf als Nihilist, Rassist, Kulturpessimist und Sexist zu befreien. Das ist nicht despektierlich gemeint. Wenn es darum geht, „die Bedingungen zur Möglichkeit der Liebe wiederherzustellen“, wie Michel Derzinski in „Elementarteilchen“ sagt, dann ist der Freundschaftsdienst sicher ein Teil davon.

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1 Kommentar

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  • Klar, kann man den Kapitalismus pausenlos kritisieren, so wie die Herren Houellebecq, Maris und viele, viele andere. Aber diese, so wie(gefühlt) 95% aller Kapitalismuskritiker, beschränken sich wirklich nur auf Kapitalismuskritik. Keine Antwort auf die Frage: „Was kommt danach?“, falls nämlich das kapitalistische System wirklich gestürzt wird?

     

    Da war doch der russische Revolutionär Lenin schon vor 100 Jahren schlauer. Als er aus dem Exil heimkehrte, brachte er ein solches Konzept mit – und zog es, ohne Rücksicht auf Verluste, durch.

    Seitdem haben mehr als die Hälfte aller Staaten der Erde mit dem Leninschen Sowjet-System experimentiert – und sind, außer China, Nordkorea und Kuba, allesamt gescheitert.

     

    Was nun? Ich ahne es bereits: Der „Sozialismus 2.0“, den z. B. die Linkspartei neuerdings propagiert, wird auch wieder auf Umverteilung basieren. Das geht gut, solange etwas zum Umverteilen da ist.

    Und danach? Siehe DDR 1.0, einschließlich Mangelwirtschaft, Unterdrückung und Verteufelung jeder Opposition, staatlich gelenkte Massenmedien, die das Leben im Land schönreden und alles Schlechte dem „Ausland“ zuschieben!

     

    Also bleibt die Frage bestehen: Was könnte nach dem Kapitalismus kommen?

     

    Ach ja, und wegen der im Beitrag erwähnten „Schelte“ an den kapitalistischen Ökonomen: Dem möchte ich einen DDR-Witz betreffs der sozialistisch/kommunistischen Ökonomen gegenüberstellen: „Was passiert, wenn man einen (DDR-) Ökonomen in die Wüste schickt?“ – „Drei Jahre lang gar nichts, dann wird allmählich der Sand knapp“!