Neues Album von Lucrecia Dalt: Merengue, Magnete und Schwerkraft

Zwischen Latinrhythmus und Science-Fiction: Lucrecia Dalts Album „¡Ay!“ ist am Freitag an der Volksbühne Berlin mit allen Sinnen zu spüren.

Die kolumbianische Künstlerin Lucrecia Dalt schaut nach links in die Ferne, stützt ihr Kinn auf einer schwarzen Schaufenster-Puppen-Hand

Körper, Geist oder die Einheit von beidem? Was macht den Menschen aus und was Lucrecia Dalt? Foto: Aina Climent

„Romperé tu narrativa y alteraré tu paisaje aplanado“. Auf Deutsch: „Ich werde dein Narrativ brechen und deine flache Landschaft verändern.“ Weich und sphärisch singt Lucrecia Dalt diese Worte in „El Galatzó“. Dem zweiten Lied auf ihrem neuen Album „Ay!“. Ihr Gesang klingt ausdrucksstark und traumwandlerisch zugleich. Diesmal singt die Kolumbianerin nicht wie zuvor auf Englisch, sondern auf Spanisch. Vielleicht auch deshalb bilden die Klänge mit den Songtexten eine verschworene Einheit.

Das gelingt auch, weil Dalt in den Texten philosophische Fragen stellt, ganz grundsätzlich nachdenkt über Raum und Zeit, die Verbindung zwischen Geist und Materie. Wie verhält sich ein Körper in Bezug zur Erde. Keine Angst, ganz leicht gibt der Takt in den Songs die verstreichende Zeit an, sphärische Backvocals erzeugen Raum und die elektronischen Klänge setzen ekstatische, manchmal erotische Akzente. Kann es einen reinen Zustand des Bewusstseins geben, ohne jegliche Materie? Laut Dalt begänne da das Zeitlose. Ein Zustand ohne Bezug zu den irdischen Parametern Erdanziehungskraft, Zeit, und Raum.

Dalt, 42, kommt aus der kolumbianischen Stadt Pereira, im Hügelvorland der Anden gelegen, eine Gegend, die auch für ihren Kaffeeanbau berühmt ist. Dalt studierte zunächst Bauingenieurwesen. Habe aber schon bald den Drang verspürt, etwas in Verbindung mit Kunst und Musik zu machen, erzählt sie. Sie schloss sich dem Kollektiv „Series“ an, das elektronische Musik produzierte und fing selbst an, mit sparsamen Mitteln erste Tracks zu produzieren. „Allmählich wurde es zu etwas Größerem, mehr als nur ein Hobby“, sagt sie.

Zwei Jahre arbeitete sie für ein geotechnologisches Unternehmen in Medellín. Dann widmete sich Dalt ausschließlich der Kunst. Sie zog erst nach Barcelona und 2013 dann nach Berlin. „Was kulturelle Vielfalt, aber auch Möglichkeiten meiner künstlerischen Arbeit angeht, gefällt mir Berlin ausgezeichnet.“

Der nostalgische Einfluss lateinamerikanischer Musik

Weit ausgeprägter als auf ihren früheren Werken ist bei „Ay!“ nun der Einfluss lateinamerikanischer Rhythmik, die zum Teil zum lasziven Tanz animiert. Hierzu habe die Zeit der Pandemie viel beigetragen, erzählt Dalt: „Ich war in Deutschland isoliert und habe aus Nostalgie angefangen, die Musik meiner Kindheit zu hören. Bolero, Salsa, Merengue – das hat mich an meine Familie und meine Heimat erinnert und Gefühle geweckt.“ Und schließlich auch die Motivation, diese Rhythmen in ihre elektronisch-experimentelle Musik miteinfließen zu lassen.

Das Ergebnis klingt weder klassisch lateinamerikanisch, noch elektronisch, noch Pop. Dalt denkt völlig anders: „Ich arbeite von der Erinnerung aus. Das lässt mehr künstlerische Freiheiten zu. Es geht mir darum im Mix etwas Eigenes zu erschaffen und dadurch positive Verwirrung zu stiften.“

Und wie reagiert der Mensch in dieser Gemengelage? „Es gibt viele Spekulationen über das menschliche Bewusstsein. Ob es nur in Verbindungen mit biochemischen Abfolgen im Gehirn besteht. Oder vielleicht doch auch in einer zeitlosen Hemisphäre“, erklärt die Künstlerin. Solche und andere Bewusstseinsfragen, die sie sich im Stillstand der Pandemie stellte, beflügeln ihre Songs.

Diese erzählen eine zusammenhängende Geschichte. Beziehungsweis, diese Geschichte inspirierte die Songs, die Dalt entlang der Story komponiert hat. „Zuerst war da eine Science-Fiction-Story, die ich mir mit dem Philosophen Miguel Prado ausgedacht hatte.“ Darin geht es um Preta – eine Außerirdische, die auf die Erde kommt und diese mit Heiterkeit, Leidenschaft und Mitleid beobachtet. „Wir Menschen bilden eine eigenartige Gemeinschaft“, sagt Dalt. Eine, in der der Körper auch eine essenzielle Rolle spielt. Denn nur durch ihn können wir – kann die außerirdische Protagonistin – die Welt, in der sie gelandet ist, erleben, spüren, entdecken.

Platte: „¡Ay!“ (Rvng Intl/Cargo), Release am 14. Oktober.

Live: Freitag 14. Oktober, 21:00 Uhr, Volksbühne Berlin.

Der Körper – ein zeitloser Felsen?

Es geht um Liebe und Tanz, vermittelt über die behutsam schwingenden Rhythmen, die immer wieder die Lieder durchdringen. Mitten hinein stellt Dalt die Frage: Was passiert mit meinem Körper? Wird er wieder eins mit der Umwelt? „Me reconozco en esa roca atemporal“ („Ich erkenne mich selbst in diesem zeitlosen Felsen“) singt Dalt bei „Atemporal“. Anhand der Erzählung über die gestrandete Außerirdische hat Dalt die Melodien aufgenommen, zuerst mit ihrer Stimme, um diese dann auf elektronische Klänge zu übertragen. Danach kamen die Lyrics, die die Geschichte erzählen und sich gleichzeitig in die Musik integrieren.

Wie Außerdische wohl unsere Welt wahrnehmen würden? „Natürlich kommt es darauf an, wo genau auf der Erde sie sich wiederfinden“, glaubt Dalt. In Prado und ihrem Fall ist es Mallorca. Genauer auf dem Galatzó, einem Berg im Tramuntana-Gebirge. Einer Gegend, um die sich unter den Einheimischen viele Mythen ranken. Starke magnetische Anziehungkräfte sollen Menschen verschwinden lassen, Emotionen beeinflussen, ja sogar in bestimmten Nächten Schwärme von Schlangen anlocken, die dort Energie tanken. In dieser mysteriösen Gegend entstanden auch die Videoclips, etwa zum Song „No tiempo“. Dessen Ästhetik erinnert an Science-Fiction-Bilderwelten aus den 1960ern, Technicolor-Touch inklusive.

Die Landschaft von Galatzó ist felsig. Gesteine, Beschaffenheiten, Materialien und Elemente tauchen auch in Dalts Songtexten auf, sie lesen sich wie Forschungsberichte: „Huele extrañamente a ozono“ („Es riecht seltsam nach Ozon“) heißt es zum Beispiel. Und nicht zufällig taucht auch der „abstrakte Einfluss“ ihres Ingenieurstudiums auf. „Am Anfang habe ich Musik unabhängig von meinem bürgerlichen Beruf gemacht.“ Doch jetzt geht es in „Ay!“ doch um die Materie. Dalt wirft einen neuen Blick auf diese, sie tut es aus Perspektive einer Außerirdischen. „Da kommt mir mein geologisches Knowhow zugute“. Das Wesen Preta erkundet die materielle Welt unter anderem mit ihrer Zunge. Leckt Gesteine ab, um zu verstehen, was den Spott der „richtigen“ Menschen auf sich zieht.

Bei „Dicen“ („Sie sagen“) verlacht man die Außerirdische als „dadaistisch“. Dalt klärt auf: „Ich betrachte meine Musik so, als ob ich einen Film drehen würde. Alles fließt darin ein: meine Geschichte, Musik und Songtexte.“ Beeinflusst wurde die Künstlerin durch Sci-Fi-Filme, die sich mit dem Aufeinandertreffen extraterrestrischer Wesen und Menschen auseinandersetzen. „The Visit“ von Michael Madsen zum Beispiel und Werner Herzogs „The Wild Blue Yonder“.

Trotz aller Experimentierfreude, Dalts eigenwilliger Sci-Fi-Latinhybrid lässt die Avantgarde hinter sich und steht einfach nur für sich selbst. „¡Ay!“ hat zwar viel Outerspace getankt, eignet sich aber gerade deshalb perfekt dafür, um runterzukommen und sich inspirieren zu lassen von der realen, immanenten, uns umgebenden Welt. Kontemplativ, für einen Augenblick, lassen wir Lucrecia Dalts Welt einfach sein als den Stück Felsen, der sie ist.

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