Neues Album von Everything But The Girl: Zündschnur aus dem Orbit der Weisen

Das britische Duo Everything But The Girl veröffentlicht „Fuse“: Seine gelassene Musik öffnet der Stimme von Sängerin Tracey Thorn neue Freiräume.

Tracey Thorn und Ben Watt sind Everything But The Girl

Klasse Kombination: Tracey Thorn und Ben Watt Foto: Edward Bishop

Ab wann gilt das Werk von eingeführten Popstars als Alterswerk? Kann man es isoliert vom Frühwerk betrachten? Oder muss es im Zusammenhang beurteilt werden? Im Falle des britischen Duos Everything But The Girl, das heute nach 24-jähriger Pause ein neues Album veröffentlicht, bietet sich diese Lesart an: „Fuse“ wird seinem Titel – fuse bedeutet Zündschnur, Sicherung, verschmelzen, aber auch durchbrennen – auf allen Bedeutungsebenen gerecht.

Es ist die Verschmelzung eines musikalischen Outputs von 1981 bis 1999, das die Solokarrieren der beiden 62-jährigen Künst­le­r*in­nen Tracey Thorn und Ben Watt vor und nach dem vorläufigen Band-Aus im Jahr 2000 miteinbezieht, dabei in der Gegenwart verankert ist und furchtlos in die Zukunft zündelt.

Die Songtexte von Sängerin Tracey Thorn kreisen schon immer um Persönliches, beschreiben häufig konkrete Situationen und Gefühle – wie etwa im Song „We Walk The Same Line“ von dem Album „Amplified Heart“ (1994): „If you lose your faith, babe / You can have mine.“ Es ist eine Liebeserklärung an Watt und zugleich Durchhalteparole.

1992 drohte Watt an einer seltenen Autoimmunerkrankung zu sterben. Öfter noch schöpfen Thorns Texte universelle Kraft aus dem Nichtgesagten: „What is it that I think I need? / Is there love in me that wants to be freed?“ („I Don’t Understand Anything“, von „Amplified Heart“).

Mit dem Text der ersten Sin­gle­­aus­kopp­lung von „Fuse“, „Left To Lose“, schlägt die Künstlerin einen Bogen zurück zum größten Hit des Duos, „Missing“, der im Remix von US-House-Produzent Todd Terry 1995 monatelang in den Charts platziert war. Wie schon in „Missing“ kehrt die Stimme des Songs zum Haus des besungenen „Du“ zurück.

Everything But The Girl: „Fuse“ (Virgin/Universal)

Während sie in „Missing“ ihre Unzulänglichkeiten für den Kontaktabbruch verantwortlich macht, bittet sie in „Fuse“ um Hilfe: „Tell me what to do / ’Cause nothing works with­out you.“ Die Sehnsucht von „Missing“ wird in „Left To Lose“ mit abgeklärtem Fatalismus abgepuffert. „What is left to lose? /Nothing left to lose.“

Angenehm leer

Thorns nach wie vor überwältigende Stimme stellt einen vor vollendete Tatsachen. Der Song hebt zwar nicht gerade die Stimmung, aber die Leere, die er hinterlässt, fühlt sich angenehm an. Das liegt an den Sounds. Watts züngelnde Hi-Hats und klickernde Drumbeats, die eine gewisse Hektik erzeugen, ab und zu eingestreute Subwooferbässe, dazu ein Sound wie aus diesen Plastikrohren, die man über’m Kopf schwingt, und melodische Dissonanzen vermitteln: kein Aufgeben, niemals. „Kiss me while the world decays/Kiss me while the music plays.“ Sind das die Segnungen des Alters?

Der Weg dahin war lang: Als sich Tracey Thorn und Ben Watt 1981 in der nordenglischen Universitätsstadt Hull kennenlernen, haben die beiden 20- und 19-Jährigen unabhängig voneinander einen Plattenvertrag mit dem Londoner Indielabel Cherry Red in der Tasche. Thorn hat dort mit ihrer All-Girl-Band Marine Girls das Album „Beach Party“ veröffentlicht. Seiner entspannt-obstinaten DiY-Attitüde ist anzuhören, dass Punk Thorn und ihren Kolleginnen den Weg raus aus der Vorstadt geteert hat. Watts 1981 erschienene Single „Can’t“ wurde von Kevin Coyne produziert und offenbart seine im experimentellen Folkjazz liegenden Wurzeln.

Thorn schreibt in ihrer Autobiografie „Bedsit Disco Queen“ (2013), der A&R-Manager von Cherry Red, Mike Alway, hätte in ihrer Stimme ein Talent gehört, das ihn an den brasilianischen Fußballstar Pelé erinnerte. Deshalb bringt er Watt dazu, Thorn in Hull aufzuspüren. Die beiden sollen gemeinsam eine Single aufnehmen, A-Seite ein Marine-Girls-Song, B-Seite einer von Watt. Am Ende der Session jammen sie Cole Porters „Night and Day“ – dabei heraus kommt der erste Hit von Everything But The Girl (EbtG). Die zurückgelehnte Rauchglasversion des Klassikers hält sich 30 Wochen in den britischen Charts.

Werbung für Möbelgeschäft

Hätten sie geahnt, dass aus EbtG ein Langzeitprojekt würde, hätten sie nach einem etwas geschmeidigeren Namen gesucht und ihn nicht von einem Werbeplakat eines Möbelgeschäfts abgekupfert, erinnert sich Thorn in „Bedsit Disco Queen“. Mit der Veröffentlichung ihres Debütalbums „Eden“ lässt sich das Duo, inzwischen auch privat ein Paar, bis 1984 Zeit, beide verfolgen ihre Soloprojekte, und Thorn bringt mit den Marine Girls noch ein Album heraus. Auch als EbtG beschränken sie sich nicht auf Zweisamkeit, rekrutieren Gastmusiker und mischen anderswo mit.

In der Folgezeit orientiert sich das Duo musikalisch weg vom herben Folkjazzpop von „Eden“, über luftigen Gitarrenpop („Love Not Money“, 1985) und eine orchestrale Wall-of-Sound – („Baby, The Stars Shine Bright“, 1986, Thorns Stimme besteht spielend neben dem Orchester des Radiohits „Come On Home“), bis hin zum etwas beliebigen Elektronikpop von „Idlewild“ (1988). Danach Ausflüge in den Mainstream, einige Flops.

Kurze Verschnaufpause, und dann der Meilenstein: „Amplified Heart“ (1994) – nicht nur das unsterbliche „Missing“, jeder Song wirkt wie eine Statue, die Arrangements leicht, rhythmische Gitarren treffen auf elektronische Hydrauliksounds, die bei „Walking Wounded“ (1996) stilvollen Schrittes zum Drum ’n’ Bass aufschließen. Zwischendrin wurde Thorn von Massive Attack um einen Gesangsbeitrag gebeten. Sie bekommt ein Demo, hört sich die Skizze eine Woche lang an und schreibt dann in 15 Minuten den Text, an dem sie nichts mehr ändert. Mit Bedacht wendet sich Thorn darin gegen den seinerzeit salonfähigen stumpfen Hedonismus. Die Gesangsmelodie kommt wie von selbst zu ihr. Der Song heißt „Protection“ und wird zum Hit.

Blame it on the Bühnenangst

Als der hochglänzende Dancefloor-Chiller „Temperamental“ 1999 erscheint, sind die Zwillinge des Paares schon geboren, Thorn entscheidet sich, zu pausieren und zu Hause zu singen. Auf einer Bühne hat sie seitdem tatsächlich weder gesungen noch ihre Soloalben vorgestellt – blame it on the Bühnenangst.

Dafür bestreitet sie Lesungen – aus ihren inzwischen vier autobiografischen Büchern, die mitreißend sind, weil Thorn darin Haltungen und Entwicklungen in der britischen Independent- und Mainstream-Musikindustrie der achtziger Jahre an ihrer Biografie spiegelt. Ben Watt gründet derweil ein Dance-Label, wird Clubbetreiber, veröffentlicht Soloalben und zieht als House-DJ um die Häuser.

Musikalischer Wandel in ihrer Karriere vollzieht sich nicht nur am Zeitgeist, sondern auch aus Lust am Experiment. Sie wollten die Wirkung von Thorns Stimme in unterschiedlichen Soundgefilden erforschen, schreibt sie 2015 in „Naked At The Albert Hall“. In dem Buch denkt sie über verschiedene Aspekte des Singens und der Stimme nach, den psychischen und physischen Auswirkungen sich als auf Sän­ge­r*in und die Zuhörenden und der bewussten Steuerung des Gesangs.

Im Körper wohlfühlen

Die luftigen Arrangements auf „Fuse“ sind darauf ausgerichtet, Thorns Stimme zu tragen. Vielleicht ist auch das ein Aspekt von Alterswerk: Tracey Thorn verkündet in „Naked“, sich wohl in ihrem Körper zu fühlen. Passend dazu sind die Songs in der Gegenwart verortet, die Zukunft kann ruhig kommen, die Vergangenheit trägt sie selbstverständlich und bar jeder Nostalgie mit sich herum.

Everything But The Girl strahlen Zufriedenheit aus – im Gegensatz zur hilflosen Verzweiflung, die 1996 etwa das Album „Walking Wounded“ ummantelt –, aber machen es sich dabei nicht bequem. Beats und Handclaps im Song „Caution To The Wind“ suggerieren Vorwärtsdrang. „I’ve waited all my life for such a night / I’m home“. Der Song „Run A Red Light“ plädiert dafür, loszulassen: „Forget the morning / This is the night“, über den Pianoteppich lässt sich zu sparsamen Keksdosen-Beats und verzerrten Synth-Sounds in den Sonnenaufgang taumeln, während die auf- und absteigenden Pianoakkorde in „When You Mess Up“ das Gefühlschaos der beratenen Person spiegeln.

Er oder sie sieht wieder jung aus, weil in sozialen Nöten – merke: Mit zunehmendem Alter sind gesellschaftliche Bekneifungen schnurz. Die Absolution zum Ausschweifen wird per Autotune erteilt – wie eine allwissende Stimme aus dem Orbit der Weisen. Ähnlich durchdacht ist der (hörbare) Autotune-Einsatz bei „Lost“ und „Forever“. Bisher hatte Thorn eher den (nicht hörbaren) korrigierenden und daher den Aufnahmeprozess beschleunigenden Effekt von Stimmeffekten zugelassen.

„No One Knows We're Dancing“ kreuzt relaxte Beats mit hyperaktiven Synthieschlaufen und löst damit die upliftenden Versprechen des Dancefloors ein. Thorn, die sich weniger als Sängerin sieht, sondern eher als eine Person, die singt, spricht in „Naked“ mit Romy Madley Croft von the xx über Schüchternheit (bei beiden enorm) und Bühnenangst.

Und ihre gemischten Gefühle beim Karaoke, die sie im gleichnamigen Song besingt: „I like the mike / I like the dark / I like the mood“, dabei kommt es zum Call-and-response-Zwiegespräch von Backingvocals und Leadstimme. „Do you sing to heal the broken hearted?“ Antwort 1: „Faces to the wall.“ Antwort 2: „Oh, you know I do.“ – „Or do you sing to get the party started?“ – Antwort 1: „Oh, not at all.“ Antwort 2: „And I love that, too.“ Es wirkt nicht, als würde Thorn der Rückkehr auf die Bühne entgegenfiebern. Aber vielleicht wäre die Angst inzwischen auszuhalten.

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